Mit einer Behinderung leben

Eine der größten Herausforderungen des Lebens – wenn nicht gar die größte überhaupt – ist es, seinen Ängsten ins Auge zu schauen. Viele kleine und große Ängste hindern uns täglich daran, unser Leben in all seinen Möglichkeiten auszuschöpfen. 

In der Serie “Nur Mut”, die regelmäßig auf diesem Blog erscheint, befrage ich Menschen, die sich ihren Ängsten in den unterschiedlichsten Bereichen gestellt haben oder stellen, die mutig durchs Leben schreiten. Diese erzählen, wie sie davon profitiert haben und welche Auswirkungen das auf ihr Leben hatte. Zudem kommen auch Experten zu diesem Thema zu Wort.

Im achten Teil der Serie stellt sich Robert Kampczyk meinen Fragen. Diesmal zum Thema: Mit einer Behinderung leben – wie ist das? Der 32-Jährige Customer Relationship Manager arbeitet für eine Softwarefirma in der Schweiz. Sein rechter Arm ist seit der Geburt gelähmt. Deshalb kann er ihn nur sehr eingeschränkt benutzen. Der 2,04-Meter-Riese lässt sich dadurch aber nicht von einem abwechslungsreichen, mutigen Leben abhalten. Seine große Leidenschaft ist das Trailrunning. Darüber schreibt er auf seinem Blog Vitamin Berge und liefert dort jede Menge traumhafter Bilder, vor allem aus den Bergen.

Robert

Hi Robert, ich habe gerade ziemlich lange über die Einstiegsfrage nachgedacht, weil ich zu dem Thema den richtigen Ton treffen will. Gehen wir Nicht-Behinderten zu verkrampft mit dem Thema Behinderung um?

Hi Mischa, schon eimal vorab vielen Dank dafür, Teil deiner Reihe sein zu dürfen.

Verkrampft ist vielleicht nicht richtig – verunsichert trifft es eher. Warum? Es ist nicht alltäglich, dass du mit einem Behinderten (oder körperlich Eingeschränkten oder wie auch immer es derzeit politisch korrekt heißt) zu tun hast. Wenn du nun in eine solche Gelegenheit kommst, gehst du im Zweifel vom Schlimmsten aus oder drückst einen Stempel drauf: behindert = hilflos. Aber keine Sorge, das legt sich sehr schnell. Zügig stellen die Leute fest, dass es genauso Menschen sind – im Zweifel sogar mit einem größeren Ehrgeiz als sie selbst.

Für mich persönlich ist es nett, wenn jemand fragt, ob er mir helfen kann. Meist aber bekommt er eine negative Antwort. Ich versuche prinzipiell erstmal alles selbst. Erst wenn ich scheitere, bitte ich aktiv um Hilfe. Krawatten binden oder Hemdsärmel zuknöpfen überlasse ich Anderen, aber Kisten tragen, das kann ich selbst.

Das Spannendste, was dir passieren kann: Lausche, wenn sich Behinderte mit Behinderten unterhalten. Da wirst du rot vor Scham wegen der Ironie und des schwarzen Humors. Es ist jedoch nie in böser Absicht gemeint. Daher empfinde ich es auch nicht als schlimm, wenn jemand etwas sagt oder schreibt, weil er nicht wusste, dass ich behindert bin und dann total beschämt ist. Es war nicht böse gemeint – und ich habe den Schalk im Nacken. Da steige ich gerne drauf ein und bohre noch weiter, während der Andere im Boden versinkt. Eine sadistische Ader von mir, gebe ich zu.

Im Grunde ist es aber ganz einfach: gerade heraus handeln und sprechen. Behindert ist ja nicht gleich dumm oder ähnliches.

Welche Reaktionen auf deine Behinderung hast du im Lauf der Zeit erlebt? Gab es da Dinge, die sehr wehgetan haben?

Neugier und Unsicherheit sind die häufigsten Reaktionen. Meist klärt es sich aber schnell. Im Winter ist es häufig durch lange Kleidung eh nicht gleich zu bemerken und es dauert, bis der Gegenüber die Behinderung bemerkt. Ich mag Kinder. Sie fragen frei heraus, was sie interessiert. Die beliebteste Frage: „Was hast du mit deiner Hand gemacht?“. Dass sie darauf die größte Lüge (auf welche ich aber vorbildhaft stolz bin) zur Antwort bekommen, müssen sie verkraften: „Das kommt vom Rauchen!“

Kinder fragen frei heraus und winden sich nicht hin und her. Das mag ich und würde ich mir auch von Erwachsenen wünschen. Wenn es sie interessiert, erzähle ich doch gerne.

Weh getan hat mir bewusst noch niemand. Oder ich habe es verdrängt, da solche Menschen für mich uninteressant sind und vergessen werden. Es gibt aber Momente, in denen ein dummer Spruch kommt und mich anstachelt, es dem Gegenüber zu zeigen. Als ich 2003 nach Köln zog und dort in der Volleyball-Liga spielte, hörte ich während eines Matches den Gegner: „Spielt über Außen, da ist ein Einarmiger. Der kann eh nicht blocken!“ Ich danke ihm bis heute, dass er zu doof zum Angreifen war. Er schaffte es in der Folge drei Mal, von mir „auf den Boden der Tatsachen“ zurückgeholt und geblockt zu werden. Dann war Ruhe.

Und wie war es in deiner Schulzeit – hast du da öfter Hänseleien erfahren müssen? 

Eher weniger. Ich bin auf eine Schule für Körperbehinderte gegangen. Wir waren „unter uns“. Aber auch später im Verein war Hänselei kein Thema. Ich denke, dass nur Leute, die sich selbst nicht wehren können, gehänselt werden. So zum Beispiel geistig behinderte Menschen. Das spricht aber eher für die Feigheit der Dummen. Bei mir hat so ein Niemand sehr schlechte Karten.

Konntest du die Lähmung deines rechten Armes besser akzeptieren, weil sie von Geburt an da war, du es also gar nicht anders kanntest? Ich zum Beispiel habe seit einem Sturz im Kindesalter in eine Glassscheibe zwei große, unschöne Narben an der rechten Hand und habe mich viele Jahre dafür geschämt und immer die Hand versteckt. Kannst du das nachvollziehen?

Schwere Frage – ich kenne es nicht anders. Natürlich gibt es Momente, in denen ich lautstark fluche, weil ich etwas nicht hinbekomme, was ein Beidarmiger gut schafft. Aber dann bin ich offen und ehrlich genug zu mir selbst und gestehe es mir ein, frage bei Anderen um Hilfe. Manchmal entwickeln sich daraus nette Gespräche. Es gab eine Zeit, da hat mir jeden Morgen die Dame an der Tankstelle den Hemdsknopf links zugemacht. An Home-Office-Tagen hat sie mich vermisst und fragte tags drauf, wo ich war.

Du bist ja schon von Kindheit an sehr sportlich. Ist das eine Art, das Handicap zu kompensieren, oder hast du das gar nie so gesehen?

Ich kompensiere nichts und laufe auch vor nichts weg (auch wenn das manche gerne sagen). Es macht mir einfach Spaß und gehört zu meinem Leben. Positiver Nebeneffekt: Durch die vielfältigen Sportarten (Schwimmen, Laufen, Volleyball, Golf, Bouldern, Yoga,….) bleibe ich fit, habe wenig Rückenschmerzen und kann sogar viel mit der rechten Hand machen. Bei Anderen, die ähnliche Diagnosen haben, aber wenig oder gar keinen Sport machen, verkümmert dieser Arm und sie haben krasse Fehlstellungen, zum Beispiel am Rücken. Das wollte und will ich nicht zulassen.

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Immerhin darfst du dich Weltmeister nennen! Wie wichtig war für dich die Zeit in der Volleyball-Nationalmannschaft der Behinderten und was hat sie dir für großartige Erlebnisse beschert?

Zunächst: Ich spiele immer noch! Auch wenn es eher Richtung Beachvolleyball geht und es nur noch zu Ligaspielen in die Halle geht. (mit Nicht-Behinderten)

Diese Zeit hat mich extrem geprägt. Ich wurde vom Einzelkämpfer (Orientierungslauf, Schwimmen) zum Teamplayer. Es war eine harte Entwicklung und sie hat meinem Trainer viele Haare gekostet, aber sie hat mir Momente geschenkt, die ich nicht missen möchte: um die Welt kommen mit lustigen Leuten, neue Menschen kennenlernen und Sport treiben.

Besondere Gänsehaut-Momente waren natürlich die Finals 2007, 2009 und 2011 in Kambodscha, die wir alle gewannen. Vor 10 000 kreischenden Asiaten und mit Live-Übertragung im ersten Kanal. Das vergisst du nie. Du stehst bei der Nationalhymne, deine Knie werden weich, weil immer mehr Zuschauer herein strömen. Die Töne erklingen und deine Brust schwillt an. Danach denkst du nur noch: „Yeahhh, soviele Leute wollen uns siegen sehen!“

Inzwischen bist du ja nicht mehr so oft am Netz, sondern als Trailrunner öfter in den Bergen zu finden. Was macht für dich die Faszination dieses Sports aus?

Ich bin gerne draußen. Schon immer. Als Kind war ich sehr oft mit meinem Vater wandernd unterwegs. In der Jugend kam ich zum Orientierungslauf. Straßenlauf hat für mich keinen Reiz. Ich brauche die Natur, die Berge, die weiten Aussichten, aber ich möchte auch rennen. Mischst du das zusammen, kommt Trailrunning dabei heraus.

Neben den vielen Reisen, die ich mit dem Sport verbinde, treffe ich auch noch mehr Menschen, mit denen ich eher über Leidenschaften und Schönheiten reden kann als mit Laufband-Walkern.

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Ab und an musst du dabei auch ein wenig klettern. Wenn ich bei deinen Berichten lese, wie du das mit einer Hand meisterst, wird mir ganz anders. Erachtest du selbst diese Situationen als gefährlich?

Es gibt bei Weltraummissionen den soganannten „Point of no return“. Ist dieser passiert, musst du weiter. Es gibt kein Zurück. Und so handle auch ich. Bei jeder Unternehmung schaue ich, was die Risiken sind und ob ich sie meistern kann. Neben dem einen Arm kommt noch eine kleine Angst vor dem Stürzen (allgemeine Höhenangst) dazu. Daher schaue ich bei kniffligen Passagen immer, ob ich noch zurückkommen würde. Wenn die Antwort nein ist, breche ich ab. Da ist mein Lebenstrieb zu groß. Es gibt aber auch Situationen, bei dennen du dies verpasst. Ich erinnere mich an einen Tag im Frühling. Die Brunnenauscharte am Hochgrat ist eigentlich einfach. An diesem Tage war sie jedoch vereist. Ich verpasste den Umkehrpunkt und musste hoch, egal wie. Seitdem achte ich noch mehr darauf. Kleine Risiken gehe ich trotzdem ein. Sonst wäre es langweilig.

Kürzlich hast du auch noch Bouldern probiert, du willst mit mir im Sommer in den Hochseilgarten gehen: Gibt es auch irgendetwas, vor dem du mit nur einem fitten Arm zurückschreckst?

Mein Credo ist: Ausprobieren, dann siehst du ob es geht. Und nur wirklich dann kann ich sagen, dass es nicht geht oder es mir keinen Spaß macht. Zurückschrecken kommt daher eher selten vor. Wobei ich jetzt nicht unbedingt ungesichert auf einer Slackline über dem Abgrund balancieren will oder Klippenspringer werde. Bouldern war anstrengend, aber eine wertvolle und wahnsinnige Erfahrung. Hier möchte ich mich noch verbessern.

Du fährst Auto, schreibst mit einer Hand auf dem Computer schneller als die meisten mit zwei Händen, hast einen ganz normalen Job, führst ein mutiges Leben. Empfindest du deine Behinderung überhaupt (noch) als Handicap?

Meistens nein. Es gibt jedoch auch viele Situationen, in denen dir die Eingeschränktheit vor Augen geführt wird. Es sind meist Kleinigkeiten. Ich würde gerne Gitarre spielen, aber das ist einarmig so nicht umsetzbar. Das wurmt. Dann singe ich halt. Und wenn es nur unter Dusche ist! Sturheit siegt.

Zum Schluss die Frage, die an alle Interviewpartner geht. Das beste Mittel gegen die Angst ist …

Neugier! Hast du die Angst nur, weil du denkst, dass du davor Angst hast? Wurde es dir eingeredet? Was passiert, wenn du es doch wagst? Probieren ist das Beste, was du machen kannst. Du hast Angst vor dem Stürzen oder der Höhe? Taste dich langsam heran und du wirst sehen: Irgendwann lachst du darüber. Natürlich wird kein David Lama aus dir, muss es aber auch nicht. Setze dir ein großes Ziel und lege dir viele viele kleine Schritte und Zwischenziele auf dem Weg dahin.

Du interessierst dich für alle Teile der Serie “Nur Mut!”? Hier findest du sie:

  1. Alleinreisen
  2. Panikattacken
  3. Der Experte Dr. Dogs
  4. Selbstständigkeit und Existenzsorgen
  5. Der Abenteurer
  6. Flucht aus der Heimat
  7. Höhenangst
  8. Mit einer Behinderung leben
  9. Ein Buch schreiben
  10. An der Mut-Tour teilnehmen