Liebst du auch diesen Moment, wenn du ein Buch liest und plötzlich an einer Stelle hängenbleibst? Innehältst, die Passage gleich nochmal durchgehst und dir denkst: “Wow, so habe ich das noch nie gesehen. Das stimmt!”

Mir ging das so, als ich zum ersten Mal “Die Fuck it Lösung” (doofer Titel, trotzdem in meinen Augen ein sehr gutes Buch) in den Händen hatte. Und zwar an der Stelle, an der das Feststecken in der eigenen Geschichte als eine der höchsten Mauern des inneren Gefängnisses geschildert wird.

Das heißt konkret: Wenn du immer nur eine Geschichte erzählst, wie oder wer du bist, wie du selbst gerne gesehen werden würdest oder wie schlecht (vielleicht auch gut) das Leben dich behandelt hat, landest du in der Sackgasse.

Kein Ausweg, keine Perspektive, immer nur die olle, langweilige Geschichte, die schon lange keiner mehr hören will.

Nur merkst du das nicht, weil du so in deiner Geschichte festhängst, dass du überhaupt nicht mehr mitbekommst, was hier und heute passiert. Mal abgesehen davon, dass du den Leuten auf Dauer damit ziemlich auf den Sack gehst, raubst du dir dabei jede Chance auf Veränderung.

Drei Beispiele gefällig?

#1 Der Schicksalsgeplagte
Er war schon als kleiner Junge ängstlich. Hat sich nicht getraut, auf Bäume zu klettern und schon gar nicht, vom 3-Meter-Brett zu springen. In der Schule wurde er oft gehänselt und bei den coolen Jungs durfte er definitiv nicht mitspielen. Die Beziehungsgeschichten liefen auch nicht so dolle, die Chefs waren allesamt unfähig, sein großes Potenzial zu erkennen. Und warum aus dem Lottogewinn nichts wurde, versteht er nicht.

Jetzt ist er Ende 30, trinkt zu viel, frisst zu viel und jammert dir bei jeder Begegnung das Ohr voll. Das Schicksal hat es einfach nicht gut mit ihm gemeint. Nachbarn, die Kollegen in der Versicherung, Mitmenschen grundsätzlich und Politiker insbesondere: Alles Idioten, die nichts verstehen. Von diesen hinterhältigen Wesen namens Frauen will er sowieso nichts mehr wissen. Seine Geschichte, ein einziges Klagelied. Der Titel: “Wenn das Leben nur einmal gut zu mir gewesen wäre …”

#2 Die Lifestyle-Business-Königin
Ja, sie rockt die Welt mit ihrem geilen Online-Business. Hat sich alles selbst beigebracht und weiß jetzt gar nicht mehr wohin mit all der Asche. Die Kassen klingeln, die Fans bejubeln jedes ihrer Worte. Lässig posiert sie an den coolsten Orten der Welt und erzählt tagein, tagaus, wie sie es zur Selfmade-Lifestyle-Business-Königin gebracht hat.  Die Geschichte ist auch einfach zu gut, die müssen noch viel mehr Menschen erfahren. Und am besten alle nachmachen, die Blaupause liegt mit einem Klick im Warenkorb.

Ihre Geschichte, eine einzige Selbstbeweihräucherungs-Arie. Der Titel: “Gut, dass es mich gibt. Was täte die Welt ohne mich?”

#3 Der Ängstliche
Er hat schon immer das gemacht, was andere ihm gesagt haben. Wenn er sich dabei nicht gut gefühlt hat, konnte er die Gefühle souverän unterdrücken. Inzwischen ist er so angepasst, dass er gar nichts mehr fühlt. Seine Ängste vor dem Leben hat er lange erfolgreich verdrängt, doch irgendwann haben sie sich Raum verschafft. Nichts läuft, wie er sich das vorstellt, sein Körper spielt verrückt. Sein Arzt hat ihm gesagt, dass er eine “generalisierte Angststörung” hat. Sein Therapeut meint nach 3 Jahren, dass er nicht so richtig Fortschritte sieht.

So erzählt der Ängstliche ständig, was ihm wegen seiner Angst alles im Leben verwehrt bleiben wird. Wenn die Angst nicht wäre, ja dann würde er so richtig in allen Bereichen durchstarten. Aber er kann halt nicht. Selbst in guten Phasen riskiert er lieber nichts und warte auf die nächste schlechte.

Seine Geschichte, eine einzige Mutlosigkeits-Fanfare mit dem Titel “Mein Leben wäre ziemlich gut – wenn bloß die blöde Angst nicht wäre”.

Warum du aufhören solltest, deine Geschichte zu erzählen

Ist das beschriebene Verhalten verständlich? Ja. Tut es gut, sich nur über seine Geschichte zu definieren? Nein.

Denn vor lauter Fixierung auf die eigene Story versäumst du den aktuellen Moment, und zwar:

  • Den Menschen, der wirklich an dir und nicht an deiner Geschichte interessiert ist. Aber du merkst es nicht, weil du wie immer dasselbe heraus blubberst.
  • Die Chance, die sich bietet, mal etwas anders zu machen, aus deiner Rolle herauszukommen. Aber du verpasst sie, weil das nicht in deiner Geschichte vorgesehen ist.
  • Die Erlaubnis, jederzeit dein Leben an deine Bedürfnisse anzupassen, auch wenn diese heute ganz anders sind als noch vor 3 Monaten. Aber du überhörst sie, weil sich deine Zukunft ausschließlich aus deiner Vergangenheit bestimmt.

Falls du dich jetzt fragst, was das alles mit dir zu tun hat, sage ich dir: Ziemlich viel.

Zumindest, wenn du zu den Menschen gehörst, die gerne mal sagen: “Ich kann das nicht, weil …”

Und dann kommt die ganze, lange und schwer ermüdende Geschichte voller Ausreden. Die du dir so brillant ausgedacht und dir selbst oder anderen so oft erzählt hast, dass du wirklich daran glaubst.

Du verpasst damit zwar das Leben und Fortschritte machst du keine. Doch wenigstens hast du deine Geschichte, an der du dich festhalten kannst.

Meine frühere Geschichte: Ich liebe meinen Job

Ich weiß, wovon ich spreche. Ich hatte früher großartige Geschichten, nur um mich nicht verändern zu müssen.

Sehr überzeugend habe ich die Geschichte vom kompetenten und allseits beliebten (na fast zumindest) Sportredakteur erzählt. Ein Mann, der seinen Traumjob gefunden hat, darin aufgeht, die Welt mit seiner Expertise beglückt und finanziell aus dem Vollen schöpfen kann.

War das gelogen? Nein. Aber es war nur ein Teil meines Lebens. Ich war nicht nur der Sportredakteur, der ein gutes Leben führt, sondern auch:

  • der Abenteuerhungrige, der zu feige für Abenteuer war.
  • der Ängstliche, der sich ständig neue Vermeidungsstrategien ausgedacht hat.
  • der Traurige, der depressive Episoden mit Medikamenten bekämpft hat, zwei Wochen später wieder ins Büro marschiert ist und da den Sunnyboy gespielt hat.
  • der Suchende, der geahnt hat, dass ein anderes Leben ihm gut täte, er sich das aber nicht eingestehen wollte.

Hätte ich diesen Punkten mehr Beachtung geschenkt, wäre die Geschichte vom geliebten Job viel früher zusammengefallen. Doch stattdessen habe ich sie mir selbst so lange erzählt und so lange meine Entwicklung blockiert, bis das Leben irgendwann gesagt hat: “Ich schüttle dich jetzt so lange, bis du sie selbst nicht mehr glaubst.”

Meine heutige Geschichte: Alles, nur kein Schema F

Und heute? Darf ich genauso aufpassen. Ich freue mich riesig, “meine Geschichte” in ganz vielen Interviews erzählen zu dürfen (und was noch viel wichtiger ist: hier auf diesem Blog).

Trotzdem gibt es nicht die eine Geschichte, die “ich bin”, auch wenn mir viele Teilaspekte davon sehr gut gefallen. “Vom Angsthasen zum professionellen Mutmacher – wie aus einem frustrierten Sportredakteur mit Panikattacken ein Selbstständiger wurde, der mit seinem VW Bus die Welt bereist und ortsunabhängig sein Geld verdient.”

Super Überschrift, oder? Und doch bin das nicht ich, will ich mich nicht dahinter verstecken.

Ich nehme das Leben lieber so, wie es kommt und akzeptiere, dass ich nicht in das starre Schema einer einzigen Geschichte passen kann.

  • Auch ich habe Tage, an denen ich durchhänge und mich wieder mit alt vertrauen Mustern beschäftigen darf, die mir nicht gut tun.
  • Ich reise sehr gerne und sitze doch den Großteil der Zeit im Home-Office.
  • Ich bereue zu keiner Sekunde, dass ich nicht mehr angestellt bin – und habe im Juli gerade mal 140 Euro verdient (zum Glück habe ich inzwischen so viel Vertrauen ins Leben, dass mir das völlig egal war).
  • Ich schreibe Artikel, lese sie ein halbes Jahr später und denke mir: “Was war DAS denn, habe wirklich ich das verfasst?”
  • Ich ernähre mich ziemlich umsichtig und dann stopfe ich mir in einer Woche so viele Süßigkeiten rein, dass ich 2 Kilo zunehme (waren dank Sport schnell wieder weg).
  • Ich habe immer behauptet, dass ich ein “Technik-Depp” bin und dann meistere ich alle Herausforderungen bei meinem ersten Buch-Launch souverän.

Passt das alles zusammen? Nein! Ja! Vielleicht! Keine Ahnung! Ist das schlimm? Nein.

Mein Leben ist im ständigen Wandel, nicht berechenbar, mal ziemlich strukturiert, mal ziemlich chaotisch und inkonsequent. Ich habe gelernt, dass jede Teilgeschichte eben auch nur eine Geschichte ist und nichts über mich aussagt.

Ende der Geschichte.

Wie ist es bei dir? Bist du genervt von Freunden oder Familienmitgliedern, die immer ein- und dieselbe Geschichte erzählen? Oder ertappst du dich selbst dabei, wie du dich oft auf eine Geschichte reduzierst und dir damit andere Möglichkeiten verbaust? Ich freue mich auf deinen Kommentar!

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