Wir nannten sie die Feldherrin. Ihr Markenzeichen: resolutes Auftreten, bestimmender Ton, Widerrede wird nicht geduldet. Abend für Abend zog sie ihre Bahnen im Schwimmbad der psychosomatischen Klinik. Am zweiten Tag meines Aufenthalts traf ich dort auf die ältere Dame und bekam meine Belehrung: “Brauchst nicht glauben, dass du hier geheilt wirst. Ich bin zum siebten Mal da und nichts hat sich gebessert. Die Klinik taugt nichts.”

Auf meine sanfte Nachfrage “Warum kommst du dann jedes Mal wieder hierher?” antwortete sie: “Weil es hier ein tolles Schwimmbad gibt und herrliche Natur. Das ist für mich wie 5 Wochen Ferien mit Vollverpflegung.”

Ich gestehe, dass ich damals im ersten Moment ein wenig verwirrt war und mich fragte, ob die Feldherrin vielleicht recht hat und bei uns Verrückten gar keine Hoffnung auf Besserung besteht. Mit ein wenig Abstand wurde mir klar: Nein, sie liegt komplett daneben. Es handelte sich nur um ein Muster, dass ich aus vielen Jahren mit Angst und Depression allzu gut kannte: Leiden ist schöner als Veränderung.

Wieso sollte jemand freiwillig leiden?

Das klingt auf Anhieb ziemlich balla-balla. Leiden tut doch weh. Wieso sollte jemand freiwillig leiden, wenn er durch Veränderungen sein Leben positiv gestalten könnte?

Ganz einfach: Weil Leiden zwar weh tut, aber so herrlich bequem ist. Leiden heißt nämlich auch, bemitleidet zu werden. Aufmerksamkeit zu bekommen. Ein unerschöpfliches Thema und eine Ausrede für viele unbequeme Dinge zu haben. Den Satz “Das geht aber nicht, weil …” zu kultivieren und bis zum Exzess auszureizen.

Schöner Leiden heißt vor allem, sich vom Ursprung der Ängste, der Traurigkeit, des Schmerzes, der mangelnden Energie abzukoppeln. Frei nach dem Motto: Mein Leben wäre eigentlich super, wenn in meinem Kopf nicht so komische Sachen herumspuken würden und mein Körper endlich mal das machen würde, was ich von ihm will.

Dieser Patiententypus war in der Klinik gar nicht mal so selten anzutreffen. Check-in – Ihr habt 5 Wochen Zeit, meine Seele gesund zu machen – Check-out. Dummerweise funktioniert das Prinzip “Haxen gebrochen – Gips hin – Gips weg – Haxen wieder okay” nicht für die Psyche.

Knöpfchen drücken und alles ist wieder gut?

Denn du bist nicht getrennt von deinem Körper und deinem Geist. Niemand kann einfach mal ein Knöpfchen drücken und alles wird wieder gut. Und auch das mit den bunten Pillen funktioniert nur bedingt und bringt noch ziemlich viele hässliche Begleiterscheinungen mit sich.

Du kannst dein Leiden nur verringern, wenn du bereit bist, die dahinter liegenden Themen anzuschauen. Und zwar nicht durch einen schnellen Schwenk mit dem Fernglas, sondern am besten mit der Lupe. Ob du es willst oder nicht: Du bist aktiv gefordert, ehrliche Antworten auf die Fragen: “Warum bin ich so, wie ich bin? Warum geht es mir so, wie es mir geht? Was kann ich tun, damit ich künftig nicht mehr so viel leiden muss?” zu geben. Und nicht zu denken: “Hoffentlich geht das bald wieder weg.”

“Schöner Leiden” war auch lange Zeit mein Lebensmotto. Immer mit dem Hintergedanken, dass so eine kleine Wunderheilung mich endlich in mein gutes, angstfreies Leben zurück katapultieren soll. Bis ich gemerkt habe, dass es dieses Leben sowieso nie gab …

Wenn die Freunde nicht mehr therapiert werden wollen

Als es bei mir endlich, endlich den Schalter umgelegt hat, habe ich kapiert: Ich kann ja selbst richtig viel zu meinem Glück beitragen. Dank dieser Erfahrung bin ich aber umso ungeduldiger im Umgang mit anderen Menschen geworden. Vollkommen beseelt von meinen positiven Veränderungen habe ich in der ersten Zeit nach der Klinik keine Möglichkeit ausgelassen, Freunden von ihren Veränderungsmöglichkeiten zu erzählen. Bis eine Freundin zu mir sagte: “Bitte hör auf mich zu therapieren.”

So lebe ich meinen Missionarsdrang nun an meinen armen, wehrlosen Lesern aus. Hahaha, Spaß beiseite: Das Thema “Leiden ist schöner als Veränderung” drückt bei vielen Menschen bewusst oder unbewusst einen Knopf. Vielleicht denkst du dir schon die ganze Zeit: “Dem würge ich aber nachher einen saftigen Kommentar zu diesem Schmarrn rein”, oder hast gerade zu deinem Partner gesagt: “Der schreibt ja einen Käse zusammen. Wenn der wüsste, wie MEINE Situation ist …”

Weiß ich nicht, zugegeben. Ich weiß, dass es bei manchen Menschen ein kürzerer, bei manchen ein längerer und ziemlich steiniger Weg ist, um Verbesserungen zu erreichen. Vor allem aber weiß ich, dass es immer einen Weg gibt, die Lebensqualität zu erhöhen und das Leiden zu verringern. Zumindest solange die eigenen Handlungsoptionen noch nicht ausgereizt sind.

Wer Mut sät, kann auch mal Hohn und Spott ernten

Weil ich diese Haltung so offen vertrete, bekomme ich oft Gegenwind. Wenn du hier schon länger liest, kennst du meine Erfahrungen, die ich in Foren und Facebook-Chats zum Thema Angst und Panik gemacht habe. Damals habe ich in meinem nicht mehr ganz jugendlichen Überschwang meine Geschichte erzählt und dachte, ich könnte ein wenig Motivation und Mut stiften. Stattdessen schlugen mir Hohn, Spott und teilweise fast schon Hass der langjährig Leidenden entgegen. Der Tenor: Wer eine schwere Angsterkrankung hat, wird die nie mehr los. Wenn jemand etwas anderes behauptet, dann lügt er oder das könne nur an starken Medikamenten liegen.

Diese Menschen haben sich so perfekt in ihrem Gefängnis des Leidens eingerichtet, dass Meldungen über gelungene Ausbruchsversuche einfach nicht stimmen dürfen. Eine Weile habe ich mich noch gewehrt, argumentiert, dann aufgegeben. Mir war klar geworden: Es ist okay, wenn jemand lieber jeden Tag 10-mal über seine ausweglose Situation schreibt und von allen Seiten Mitleid bekommt, als sich Gedanken über mögliche Auswege zu machen.

Für sie ist Leiden schöner als Veränderung. Es gibt Sicherheit und schützt einen davor, das Leben selbst in die Hand nehmen zu müssen. Sonst müssten sie sich Dinge anschauen, wie möglicherweise:

… und noch so einiges mehr.

Wenn du solche Prozesse zulässt, könnte dir klar werden, dass dein Leben gar nicht so super ist und nur dein Kopf spinnt. Sondern dass Körper und Geist deshalb rebellieren, weil du durch das andauernde Verhindern von Veränderung einen Teil oder sogar einen Großteil deines Leidens selbst geschaffen hast.

Peng und los

Bei einigen macht es dann Peng. Sie stellen fest, dass das Leben nach dem Leiden viel schöner sein muss und brechen auf. Sie entscheiden sich für die Unsicherheit der Veränderung und begeben sich mit vollem Bewusstsein auf das Glatteis des Lebens. Manchmal brechen sie dabei kurz ein, aber ihre Rettungstruppe ist stets aktiviert.

Mit zunehmender Dauer werden die Schritte sicherer. Diese Menschen strahlen so viel Lebensfreude, so viel Mut und so viel Weisheit aus, weil sie die vielleicht wichtigste Lektion des Lebens verstanden haben: Der Traum von der Wunderheilung wird nur wahr, wenn du selbst aktiv dazu beiträgst.

Von einigen dieser Menschen wird hier in den nächsten Monaten zu lesen sein. Ich freu mich drauf. Ich hoffe, du auch. Denn genau genommen ist das Leben mit schmerzhaften Veränderungen immer noch 1000-mal schöner als das Leiden.

Lass uns 2016 zu dem Jahr machen, in dem wir uns gegenseitig noch mehr zu unbequemen Schritten motivieren! Und in dem wir allen Feldherrinnen der Welt zeigen, dass sie doch nicht recht haben.

P.S.: Auch wenn ich die Lektion des Lebens verstanden und schon vieles auf den Kopf gestellt habe, drücke auch ich mich noch oft genug vor Veränderungen.
P.P.S.: Und du?