„Ich hab die Schnauze voll, ich hab die Schnauze voll, ich hab, ich hab, ich hab die Schnauze voll“: Wäre ich heute Morgen in einem Sportstadion gestanden, wäre das genau mein Song gewesen. Noch nie auf meiner zehnwöchigen Reise habe ich mich so beschissen gefühlt. Seht mir meine harsche Wortwahl heute mal nach, ihr werdet jetzt einfach knallhart als mein Tagebuch missbraucht. Was war passiert? Schließlich habe ich doch gestern erst noch die Liebesgrüße an Schweden geschrieben. Nichts. Ich habe einfach den Blues bekommen. Bin aufgestanden, fühlte mich wie seit Tage schon saft- und kraftlos. Nicht mal Yoga hat geholfen. Dann habe ich mich einfach auf meine Matte gelegt, minutenlang tief geatmet und mal in mich reingehört und ein langes Selbstgespräch geführt. Und dann brach es unter Tränen heraus: „ICH WILL NICHT MEHR ALLEIN SEIN!“
An meine Grenzen gestoßen
Diese Eruption der Gefühle tat unheimlich gut. Hat mir Klarheit verschafft. Hat mir gezeigt, dass ich nun nach 10 Wochen und rund 10 000 Kilometern Solotour an meine Grenzen gestoßen bin. Und genau deshalb war ich ja Anfang Mai aufgebrochen. Zu schauen, was ich aushalte und was nicht. Ein Freund – von dem im Übrigen auch der Tipp mit dem Nordkap stammte – hatte mich gewarnt. „So lange allein mit dem Bus, das wird hart. Das ist was ganz anderes, als wenn du als Backpacker in Hostels jeden Tag auf Gleichgesinnte triffst.“ Und er sollte Recht behalten.
Ich brauche wieder Gespräche ohne Vorgeplänkel
Der nette kurze Plausch mit den Nachbarn und hier ein dort mal eine Begegnung mit einem etwas längeren Gespräch reicht mir nicht mehr. Ich brauche mal wieder dringend feste, gewohnte Ansprechpartner, wenn ihr wisst, was ich meine. Bei denen die Basis schon da ist und nicht täglich aufs Neue wieder gelegt werden muss. Mit denen ich einfach ohne Vorgeplänkel lachen, herumalbern, reden, feiern kann. Wenn man so will also die kommunikative Komfortzone zurückerobern. Es wird Zeit!
Diesmal war ich der Verlassene
Nicht zu vergessen der wichtigste Punkt: Ich vermisse meine Frau unfassbar stark. Die Zeit bis zu unserem ersten Wiedersehen in Stockholm war schon die längste, die wir je getrennt waren. Die vier Wochen bis zum Wiedersehen damals verflogen aber für mich so schnell. Alles war so neu, spannend, ungewohnt. Wir hatten großartige Tage, sie flog ab – und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, der Verlassene zu sein. Ich saß da in der Wartehalle mit Blick aufs Rollfeld, wusste, dass es nun acht Wochen bis zum nächsten Wiedersehen sein werden und habe geheult wie ein Schlosshund.
Schleusen auf!
Ja, ich schreibe hier ganz offen von meinen Tränen. Ich war früher auch der klassisch-männliche Tränenunterdrücker. Während des Klinikaufenthalts vergangenes Jahr gingen aber die Schleusen endlich auf – und das hat so gut getan. Ich habe mich wirklich gefreut, dass ich heulen kann. Das befreiende Gefühl möchte ich nicht mehr missen. Und das hat mich auch heute Morgen gerettet. Denn zuvor waren Zweifel und Unsicherheit in einem Maß über mich hergefallen, wie ich es lange nicht mehr erlebt hatte. Und wer jemals eine schwere psychische Erkrankung hatte, weiß genau: Das ungute Gefühl, dass der Fahrstuhl wieder abwärts gehen könnte, sitzt immer in dir drin. Ist dein ständiger Begleiter und Wachhund.
Meine Rettungsanker
Aber hej, ich fahre ja nicht durch halb Europa, um wieder in die Krise zu schlittern. Nach den Tränen kam die Zuversicht zurück. Erster Anker: Ab 11. August treffe ich mich für ein paar Tage mit einem Freund in Berlin. Zweiter Anker: Danach steigt meine Frau bei Dr. D zu und begleitet mich in den Süden. Dritter Anker: Die Sonne, die mir zugerufen hat: „Geh jetzt ans Meer, bade und lass es dir gutgehen.“ Das tat ich dann auch zusammen mit gefühlt 10 000 Finnen. Vierter Anker: Morgen fahre ich weiter. Und on the road geht es mir immer am besten. Das ist meine Welt.
Ich will die genialen Momente teilen
Apropos Sonne und Sommer: Es ist für mich teilweise unerträglich, dass ich so viele geniale, endlose Tage an so vielen genialen Orten erlebe und weder mit meiner Frau noch mit Freunden teilen kann. Am Lagerfeuer stelle ich mir vor, wie es jetzt wäre, mit Kumpels dort zu sitzen, Bier zu trinken und dreckige Lieder zu singen. Beim Sonnenuntergang sehne ich meine Frau herbei. Und Minigolfspielen will ich auch nicht allein. Ich hatte mich vor der Reise immer als potenzieller Kandidat für drei Monate allein auf einer Berghütte gesehen. Nein, das bin ich wirklich nicht. Alleinsein ist für mich eine wunderbare Erfahrung, aber nicht endlos ausdehnbar. Scheint so, als wäre ich doch der extrovertierteste Intro, der so herumläuft.
Das Fazit
Was heißt das Ganze jetzt konkret? Die drei Wochen bis Berlin werde ich noch als schönen Baltikum-Polen-Roadtrip in Würde überstehen. Bin auch jetzt, da ich die Zeilen schreibe, schon wieder richtig gut gelaunt. Nur weiß ich inzwischen: Vier, fünf Wochen sind wohl das Maximum, die mir beim Alleinsein noch gut tun. Um das herauszufinden, hat sich mein Selbstversuch doch schon gelohnt. Und jetzt gehe ich in die Stadt, nehme ein paar Bier und schreie beim Karaoke den letzten Frust heraus. Oder schaue mir am Strand den Sonnenuntergang an. Soll ja allein auch ganz schön sein …
Oh je … Ja, so eine Reise ist halt in erster Linie eine Reise zu sich selbst … Viel Spaß beim Singen 😉
Hi Natascha,
ja, man lernt sich durchaus noch besser kennen – auch, wenn ich zuvor schon sehr gut reflektieren konnte (diese Gabe ist ja nicht allen Zeitgenossen gegeben …)
Leider hatten die beiden Karaokebars gestern geschlossen, wahrscheinlich haben sich die Finnen alle am Wochenende verausgabt. So habe ich halt auf dem Marktplatz ein paar Betrunkenen beim Torkeln zugesehen, war auch witzig. Und Karaoke gibt es spätestens in Helsinki 🙂
Liebe Grüße
Mischa
Hallo Mischa,
dann wünschen wir Dir viel Spaß beim Sonnenuntergang,
Hi Alex,
da war ich doch tatsächlich nen Ticken zu spät dran, weil es mir in der Stadt so gut gefallen hat und hier ja die Sonne schon um 23.30 Uhr untergeht 🙂
Liebe Grüße
Mischa
Go on, Misch…Du kannst mehr, als Du denkst. Gehe (in Deinem Fall fahre) weiter. Und such’ den Moment, in dem selbst entscheidest, was Du willst – und nicht Dein Gefühl. Du bist nicht Deine Gedanken….
Danke, das stimmt!
Und ich finde beides wichtig: Auf das Gefühl zu hören und dann aber auch mit dem Verstand zu entscheiden, was das jetzt für mich bedeutet.
Dem Satz: “Du bist nicht deine Gedanken” muss ich aber entschieden widersprechen. Seit ich “anders” denke, seit ich mich von meinen zuversichtlichen Gedanken leiten lasse (“ich liebe das Leben und das Leben liebt mich”), geht es mir auch körperlich viel besser, widerfahren mir positive Dinge, die ich als Zufall abtun könnte. Aber es gibt keine Zufälle! Davon bin ich zutiefst überzeugt.
Liebe Grüße
Zehn Wochen soviel allein ist auch schon eine echt lange Zeit. Hut ab! Ich kann mir so ein klein bißchen vorstellen wie es Dir geht. Finde es toll, dass Du ganz offen darüber schreibst. Mir ging es letzte Woche in Italien am Ende so, dass ich mich inmitten der Leute um mich herum einsam fühlte….weil wir echt zu unterschiedlich waren und eine tiefere Konversation garnicht erst zu Stande kam.
Hey, ich würde mich freuen Dich zu treffen, wenn Du nach Berlin kommst. Ein kleines Blogger Camp Treffen wäre doch was!
Nochmal tief durchatmen und wer weiß was der Balkan und Polen für Dich bereit hält?
Gute Fahrt, Synke
Hi Synke,
danke für dein Lob und deinen Zuspruch. Ich denke, das auch von dir erlebte Problem liegt einfach darin, dass gar nicht genug Zeit bleibt, um so wirklich einzutauchen. Ich denke, wenn du an dem selben Ort mal vier oder sechs Wochen bist, sieht das auch wieder anders aus. Plötzlich hast du Menschen, die du wiedererkennst oder die dich wiedererkennen und es fühlt sich einfach vertrauter an.
Und mit dem Berlin-Vorschlag bist du mir zuvor gekommen 🙂 Wir müssen uns unbedingt treffen, und vielleicht haben ja ein paar andere auch noch Zeit. Ich werde es nachher mal bei FB bzw. Twitter “anmelden”.
Ganz liebe Grüße – und ja, ich freu mich jetzt richtig auf die unbekannten Länder
Mischa
Hallo Mischa,
hab gerade versucht, Deine Gefühlswelt auf mich wirken zu lassen.
Ein sinnvoller Kommentar fällt mir nicht ein, aber das muss es ja auch nicht.
Darum sage ich einfach “Hallo” und wünsche Dir noch viele positive
Erlebnisse auf der Zielgeraden !
P.S. Kann es sein, dass die beiden Karaoke-Bars Deinen Blogg gelesen haben ?
Hi Thomas,
danke für die Grüße und guten Wünsche. Und du meinst, die hätten absichtlich geschlossen, weil sie Schlimmes von mir befürchtet hatten? 🙂
Viele Grüße
Mischa
Hey Mischone,
na endlich bist auch du an diesem Punkt angelangt! Hätte mich echt geärgert wenn du das alles so easy ertragen hättest. Busreisen allein ist eben Busreisen allein, eben reisen allein mit dem Bus, und der Bus ist zwar ein treuer Begleiter und guter Zuhörer, Bruno neigt aber genau wie Frosch/Dr. D dazu, meist nur recht schweigsam zu brummen. Und wann immer er sich zu Wort meldet, meist durch krachen, stinken oder rote Warnlampen, wünschst du dir, er hätte geschwiegen.
Also weitermachen, durchhalten, geniessen, leiden, heimkommen, mich auf eine Etappe mitnehmen, ich kau’ dir schon ein Ohr ab, keine Sorge.
Hej wim,
treffender hätte man die Mann-Bus-Beziehung nicht beschreiben können! Hab gerade herzlich gelacht.
Und die anderen Punkte gehen eh klar, vor allem die gemeinsame Etappe. Ich sehe eine große Zeit in Italien vor uns.
Beste Grüße
Vielen Dank für diesen Beitrag.
Damit wäre wieder einmal bewiesen, dass der Mensch kein Alleingänger ist. Ich mag alleine verreisen absolut nicht. Ich finde jedoch, dass viele SMS tippen oder skypen schon gut weiterhilft, um den Partner nicht so doll zu vermissen. Der Freund meiner Schwester in Fernfahrer und mag das lange alleinsein auch nicht. Daher hat er jetzt einen kleinen Hund, den er mitnimmt. Das hilft enorm.
Hm…wär jetzt wahrscheinlich nicht so passend für dich bzw. nicht realisierbar , oder?
Halt die Ohren steif.
Alles Gute
Myriam
Hi Myriam,
wie Recht du hast!
Nachrichten schreiben, skypen und Telefonieren sind natürlich enorm wichtig. Ohne das ginge es gar nicht. Aber irgendwann ist halt der Punkt erreicht, an dem du den anderen wieder sehen (nicht nur durch die Handykamera) und in den Arm nehmen willst.
Das mit dem Hund ist witzig: Eine Kollegin hatte mir vorher gesagt, dass ich mir “unbedingt” einen mitnehmen muss. Aber ganz ehrlich: Auch, wenn ich Hunde liebe, für diese Tour wäre es nichts. Ich will einfach Tag und Nacht maximal flexibel sein, alles auskosten, wie es sich gerade ergibt, und nicht für ein Tier verantwortlich sein und mich nach seinen Bedürfnissen richten. Daheim könnte ich mir einen Hund gut vorstellen, falls wir mehr Platz hätten. Und mal schauen, ob ich dann bei meiner nächsten Tour einen Begleiter habe 🙂
Danke für die guten Wünsche, und es fühlt sich schon alles wieder viel besser an, seit ich mich ausgekotzt habe.
Liebe Grüße
Mischa
Hej Mischa,
es hat recht lange gedauert, bis ich auf dein Blog gestoßen bin, aber jetzt habe ich gerade im Büro so gut wie alle Beiträge hier gelesen (quasi binge reading).
Dass ich die Idee für dein Projekt gut finde, hab ich dir ja damals schon auf der Grüntenhütte gesagt. Dass du das jetzt voll durchziehst, finde ich grandios. Fetten Respekt! Die Höhen und Tiefen (und ich meine nicht nur die Topografie Schottlands) sind Herausforderung und Lohn zugleich. Aber ich bin mir sicher: Du ziehst das durch!
Ich wünsche dir weiterhin unvergessliche Erfahrungen und bleibende Eindrücke und freue mich schon auf deine nächsten Posts!
Bleib sauber!
Moi Boni, wie der Finne so sagt,
schön, von dir zu hören! Da hat aber ein gewisser Logistik-Chefredakteur seine Hausaufgaben nicht gemacht, der nämlich die Blogadresse brav weiterleiten wollte. Aber sei’s drum: Binge Reading klingt spannend!
Lieben Dank für dein Lob und den guten Zuspruch, da kann ich gar nie genug davon bekommen. Und natürlich ziehe ich das durch, bin ja jetzt zum zähen Einzelkämpfer mutiert. Vor allem der dem Westen zugehörige Ostblock ist noch einmal sehr reizvoll in den nächsten 2 Wochen.
Beste Grüße nach Monaco und viel Freude weiterhin beim Lesen
Mischa
Hey Mischa,
Habe jetzt mehrere deiner Artikel gelesen und fühle mich jetzt ein wenig besser.
Ich bin seit 4 Tagen in Australien, und fühle mich einfach nur komplett alleine und einsam. Ich hoffe, dass sich das ändert..
Lg
Hi Alex,
das klingt ja nicht so gut (außer, dass dir meine Artikel ein wenig helfen). Gibt’s da keine Leute, die dich ein bisserl ablenken können? Mir hat es immer sehr geholfen, wenn ich mal jemand zum quatschen hatte. In der Zeit kannst du gar nicht mehr so viel grübeln …
Drücke dir die Daumen, dass du schnell aus dem Loch kommst und die Zeit in Downunder genießen kannst!
Liebe Grüße
Mischa