Heute stelle ich eine gewagte These auf: Durch das bewusste Kneifen vor etwas, das dir Angst einflößt, kannst du im Umgang mit deinen Ängsten sogar profitieren.
Das kommt jetzt überraschend, oder? Sonst werde ich doch nicht müde zu betonen, dass du dich den Ängsten und Herausforderungen stellen solltest. Woher also die plötzliche Wende?
Ganz einfach: Das ist gar keine gedankliche Wende. Aus meiner subjektiven Sicht ist das Kneifen sogar ein wichtiger Bestandteil des ganzen Prozesses – solange es bewusst und situationsbedingt geschieht und keine Kapitulation vor der Herausforderung darstellt.
Es geht darum, dass zu viel Druck nicht gut tut. Wenn ich aber nur dann mit mir zufrieden bin, wenn ich jede Herausforderung sofort annehme und mich ununterbrochen mit meinen Ängsten konfrontiere, kann ich leicht daran verzweifeln. Denn nicht überall sehe ich sofort einen Erfolg und fange dann vielleicht an zu hadern. Und das ist kontraproduktiv.
Viel besser ist es doch, auch mal Fünfe gerade sein zu lassen und zu akzeptieren, dass es schlechte Tage oder Momente gibt.
Du hast Angst vor dem Autobahnfahren, testest dich aber langsam durch kurze Strecken an die Sache heran und hast heute einen Tag erwischt, an dem es dir überhaupt nicht gut geht? Dann lass es an diesem einen Tag mal sein, deinen Mut herauszufordern, kneife ganz bewusst, fahre wieder über die Landstraße und freu dich drauf, es beim nächsten Mal wieder zu probieren.
Für mich ist es ein Akt der Selbstliebe, nicht immer mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Dein Verstand sagt dir: “Ich muss der Angst ins Auge sehen.” Dein Herz oder Bauch sagt: “Heute bin ich aber nicht bereit dafür.”
Kneifen heißt nur, den Gipfelsturm zu verschieben
Und das ist vollkommen okay. Ohrfeige dich nicht dafür, dass du gekniffen hast, sondern nimm es mit Humor. Sei stolz darauf, was du im Umgang mit deinen Ängsten schon erreicht hast und verschiebe den Gipfelsturm. Mach es dir ohne schlechtes Gewissen in deiner Komfortzone gemütlich, bis es dir besser geht.
Ich sehe es so: Manchmal muss man einen Schritt zurück machen, um mehr Anlauf für den richtig großen Satz nach vorne zu haben. Solange du dich nach dem Schritt zurück nicht umdrehst und wegrennst, sondern dein Ziel im Auge behältst, ist doch alles in Ordnung.
Denn natürlich ist das eine kleine Falle: Du kneifst. Du bist kurzzeitig erleichtert, weil du die angstauslösende Situation nicht meistern musst. Und dann gefällt dir das kuschlige Gefühl so gut, dass du es nicht mehr loslassen willst.
In meinem Fall haben sich diesbezügliche Sorgen aber nie bewahrheitet. Schließlich weiß ich, dass es mir hilft, wenn ich meinen Ängsten ins Auge sehe und ich davon unheimlich profitiere. Also gibt es gar keinen Grund, von dem Weg abzukommen. Nur: Das Tempo bestimme ich dabei selbst. Wenn mal ein Ruhetag nötig ist, gönne ich mir den.
Das Gehirn braucht manchmal einfach ein bisschen Zeit, um sich mit großen Aufgaben anzufreunden. Eine gute Freundin klettert schon lange und sehr schwierige Passagen. Aber eine neue Herausforderung geht sie nie direkt an. Sie fährt in das entsprechende Gebiet, macht sich erst einmal richtig in die Hose, kehrt um und verschiebt das Vorhaben. Und zwar nicht aus Gewohnheit, sondern weil sie in diesem Moment diese Stelle aus zu großer Angst nicht klettern könnte. Beim nächsten Mal klappt es dann.
Rückzieher in Barcelona
Ich habe auch ein Beispiel für einen Rückzieher parat: Das Thema Höhenangst gehört seit meiner jüngsten Kindheit zu mir. Nach einigen schlechten Jahren, in denen ich mir diesbezüglich gar nichts mehr zugetraut habe, hatte ich in den vergangenen zwei Jahren schon einige Erfolge – vor allem bei meiner Europatour. Ob das Stadshuset in Stockholm, der Olympia-Turm in Helsinki oder ein verdammt hoher Glasaufzug in Lissabon: Immer habe ich die Pobacken zusammengekniffen und bin tapfer hochgefahren.
Doch dann kam der Tag in Barcelona. Irgendwie war mir die Stadt viel zu überfüllt, ich fühlte mich nicht wohl, mein Magen spielte ein wenig verrückt. Auch dort gab es einen Glasaufzug, der mich herausgefordert hätte. Aber es ging in diesem Moment einfach nicht. Ich habe gekniffen.
Direkt danach war ich mit mir unzufrieden und wollte mir das Scheitern nicht durchgehen lassen. Doch mit ein wenig Abstand habe ich gemerkt, dass es richtig und wichtig war. Dann habe ich mir gesagt: “Dieses einmalige Kneifen macht mit Sicherheit nicht all die schönen Erfolge zunichte, die du schon erzielt hast.” Ab dem Moment fühlte es sich stimmig an.
Letztlich ist das doch entscheidend. Was nutzen dir das beste Wissen um das, was du gerade tun solltest, und all die gut gemeinten Ratschläge, wenn es in diesem Moment für dich einfach nicht passt?
Ich zum Beispiel habe in den vergangenen zwei Jahren deutlich an Abenteuerlust und Experimentierfreudigkeit zugelegt. Dabei aber auch festgestellt, dass ich wahrscheinlich nie mehr der riesengroße Abenteurer werde, der zwei Jahre lang trampend und mit ganz wenig Geld durch die Welt zieht oder der mit seinem VW-Bus auf dem Hippie-Trail auf dem Landweg nach Indien fährt. Und sicher keine Hängebrücke betritt, die über eine tiefe Schlucht führt.
Warum? Wenn ich in mich gehe und solche Dinge visualisiere, merke ich schnell, dass es (noch) nicht zu mir passt. Also kneife ich einstweilen noch. Mal schauen, wie ich in 5 Jahren drüber denke …
Wie ist es bei dir? Stürzt du dich in jede Herausforderung oder kneifst du auch mal ganz gerne? Und wenn ja, wie geht es dir dabei? Ich freue mich auf deinen Kommentar!
Foto: © Depositphotos.com/happyalex
Hey Mischa,
schön, dass du das Thema ansprichst.
Ich kenne das mit der Höhenangst selber ja nur zu gut und gehe trotzdem klettern.
Dabei merke ich besonders, wie groß die Unterschiede bedingt durch die Tagesform und die eigene Stimmung sind. An manchen Tagen kraxel ich in 30m Höhe herum und komme gut mit der Angst zurecht, an anderen verlässt mich schon bei 1m der Mut und es funktioniert rein gar nichts.
Ich finde es extrem wichtig, in solchen Momenten verständnisvoll mit sich selber umzugehen und sich einzugestehen, dass es gerade einfach nicht sein soll. Man muss sich nicht noch selber niedermachen, sondern sollte es – genau wie du sagst – zu einem anderen Zeitpunkt erneut versuchen.
Kneifen wäre im Grunde eine Wertung, die einen runterziehen kann.
Sich selber einzugestehen, dass man sich überfordert fühlt und seine Grenzen anzuerkennen, ist aus meiner Sicht eine Stärke.
Liebe Grüße
Nima
Hi Nima,
ich denke auch, dass das Verständnis für einen selbst und die eigene Tagesform das Wichtigste sind. Und für mich ist Kneifen gar nicht so negativ, eher so eine Überspitzung.
Liebe Grüße
Mischa
Hallo Mischa
Vielen Dank für den tollen Artikel.
Der kommt gerade wie gerufen
Hi Sarah,
lieben Dank für deine Nachricht und das große Lob!
Freut mich, dass ich dir damit helfen konnte.
Liebe Grüße
Mischa
Hallo Mischa,
schöner Artikel!
Allerdings ist “kneifen” für meinen Geschmack eine zu negative Aussage. Wieso “kneift” man, wenn man trotz seiner Höhenangst bereits vor einem Glas-Aufzug steht? Man kann es sich doch ruhig nochmals überlegen, dass finde ich absolut OK – gar nicht erst hin gehen – dies wäre “kneifen” für mich gewesen. “Überlegen erlaubt” wäre vielleicht ein bessere Überschrift gewesen 😉
Lieben Gruß,
Claudia
Hi Claudia,
danke fürs Kompliment!
Wie ich im Kommentar zu Nima schon geschrieben habe, ist für mich “Kneifen” gar nicht so ein schlimmes, negatives Wort. Vielleicht haben da Männer und Frauen auch eine andere Sicht darauf? 😉
Liebe Grüße
Mischa
Mischa,
einfach toller Artikel. Das besonders wertvolle daran finde ich, dass Du es geschafft hast, den goldenen Weg zu finden: Du nimmst den Druck und findest gleichzeitig die richtigen Worte, um zu motivieren, dass man dennoch an der Sache bleibt und das Ganze nicht einfach nur als Entschuldigung benutzt.
Hi Alex,
vielen Dank 🙂
Das hat bei mir auch lange gedauert, bis ich den goldenen Weg gefunden habe. Und manchmal passiert es mir immer noch, dass ich entweder zu schnell ans Kneifen denke oder zu sehr gegen die Angst anrennen will. Aber im Gegensatz zu früher spüre ich viel schneller, an was es gerade liegt.
Liebe Grüße
Mischa
Mal “fünfe grade sein lassen” ohne schlechtes Gewissen – vielen Dank, dass du mir mit diesem Artikel den Mut dazu gibst!
Gerne doch 🙂
Freut mich, dass ich dir Mut machen konnte!
Liebe Grüße
Mischa
Hi Mischa,
ich denke, viele Menschen, die eine Angstproblematik haben, mich vollkommem eingeschlossen, neigen sowieso dazu völlig über die eigenen Grenzen zu gehen. Und das oft jahrelang bevor man zusammenbricht. Viele haben diesen (un-) schönen Charakterzug im Blut sich durchzubeissen, zu kämpfen und machen und tuen, zu kontrollieren und organisieren und das natürlich mit nicht weniger als 120 %. Ich las vor längerer Zeit ein Buch, wo man dazu getrieben wurde immer durch jede Angstsituation zu gehen, ständig, nicht einmal zurückzuweichen etc. . (Konfrontationstherapie) Dieses Buch hat solch ein drückendes und druckmachendes Gefühl hinterlassen, dass ich mich weiter durch alles durch geprügelt habe. Natürlich erntete ich eine Panikattacke nach der anderen. Bei mir wurde es so nicht besser. Traute ich mich einmal etwas noch so Kleines nicht, fühlte ich mich als kompletter Versager. Die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei. Eigentlich weiß ich schon lange, dass nicht DIE Straße die Gefahr ist, nichte DER einsame Welt…. sondern dass tief in meinem Inneren etwas ganz aus der Balance geraten ist. Mittlerweile pfeife ich auf merkwürdige Literatur, die meint meinen Königsweg zu kennen. Dieser Selbigen zeige ich den innerlichen Stinkefinger, lehne mich entspannt zurück und denke: Mach ich morgen. Oder übermorgen, oder einfach wenn es mich packt, wenn ich Bock darauf habe “Hallo Angst, du Arschloch!” zu sagen, zu brüllen und die Buchstaben zu tanzen. Die viel größere Erkenntnis war es mich selbst zu akzeptieren und mein Bauchgefühl kennen zu lernen, die mir genau sagt, wann etwas geht. Mein kleiner innerer Reiseführer weiß genau, wann es Zeit auf der seelischen Strandliege zu träumen und wann ich auf meinen selbstgemachten Wellen surfe.Da muss mein Kopf gar nicht mitmischen wollen, der hat mittlerweile häufig Sprechverbot. Ich empfinde es als viel wichtiger erstmal die Basics bruchsicher zu machen und dann darauf aufzubauen. Schritt für Schritt und in MEINEM Tempo, nicht dem dass mir ein Buch oder die Gesellschaft diktiert. Muss den heute jeder in ein Flugzeug steigen, Bungee Jumping machen, Backpacking durch die entlegensten Winkel der Welt wandern? Brauche ich, dass für mein Image oder um anderen etwas zu beweisen? Ist man nur dann ein vollwertiger Mensch, wenn mann als diese Skills erfüllt? Vielleicht für ein tolles Selfie oder weil ich es echt und innig will? Denn Letzteres wäre der einzig vernünftige Grund. Und wenn ich niemals auf irre hohe Gebäude fahre oder durch enge unterirdische Höhlen klettere. Naaa und? So lange es mir gut dabei geht. Dafür kann ich ganz viele andere Dinge, die andere Menschen vielleicht so nicht könnten. Zum Beispiel Sterbenden die Hand halten. Das ist mir mehr wert. Es ist so wichtig seine Bedürfnisse und Werte zu erkennen und seinen eigenen Wert spüren zu lernen.
Ganz praktisch gedacht, der Zeitpunkt alleine wieder auf der Autobahn zu cruisen etc. .wird kommen. Ich werde das Kribbeln und das Wollen in mir spüren. Wenn die Zeit dazu gekommen ist. Immer ein Schritt nach dem Anderen, und manchmal auch nur mit 60 %. Auch mal einer zurück, Drehung, Wendung, Wiegeschritt und wieder vorwärts….
Hi Svenja,
lieben Dank für deinen Kommentar. Schöner hätte ich es nicht schreiben können 🙂
Bei mir war es haargenau so. Das ewige Anrennen und Konfrontieren hat solange nichts gebracht, bis ich die die wahren Probleme aufgelöst habe. Und die hießen: mangelnde Selbstliebe, häufige Selbstanklage, nicht verzeihen können, etc. Erstaunlich war, wie schnell ich in Sachen Angst Fortschritte gemacht habe, als ich bei diesen Themen weitergekommen bin. Sich selbst zu mögen, sich selbst in den Mittelpunkt seines Lebens zu rücken, auf sein Herz zu hören: Das sind für mich die Schlüsselmomente, die mich weitergebracht haben. Und nicht, ob ich mich jetzt auf eine Hängebrücke traue oder nicht.
Ich freue mich für dich, dass du gelernt hast, gut auf dich zu hören und wünsche dir weiter viel Freude beim Visualisieren deines Comebacks auf der Autobahn 🙂 Lass mich wissen, wenn du es gemacht hast. Für mich war das damals ein richtiges Aha-Erlebnis, das mir einen fetten Schub verliehen hat.
Liebe Grüße
Mischa