Mann, geht’s mir heute super! Ich habe Eustress. Ja genau, der gute Stress. Ich habe 12 Stunden lang fast ohne Pausen geackert wie ein Blöder, aber nur an Dingen, die mich so richtig in Fahrt bringen. Körper und Geist auf Höhenflügen. Nichts kann mich mehr stoppen. Wer braucht schon teures Red Bull, wenn er Eustress ganz umsonst haben kann?

Hast du gerade heftig mit dem Kopf genickt und dir gedacht: “Ja, genau, so geht’s mir auch oft. Was für ein geiler Zustand!” Dann herzliches Beileid. Du bist dabei, in eine der gemeinsten Fallen unserer Hochleistungsgesellschaft zu tappen.

Nämlich der, dass es dir immer blendend geht, wenn du nur auf der Welle des Eustress surfst. Während du mit dauerhaftem Distress (=schlechter Stress) so richtig baden gehst.

Aber egal, aus wie vielen Lifeystyle-Magazinen, Frauenzeitschriften und Persönlichkeitsentwicklungs-Blogs mir die Lobhudeleien vom guten Stress entgegen schreien: Das ist alles Käse! Denn Stress bleibt Stress. Und zu viel Stress macht auf Dauer krank. Auch guter.

Was bedeutet Eustress genau?

Nachdem du jetzt meine klare Meinung zu diesem Thema kennst, wird es Zeit, sich mal die Begrifflichkeiten anzuschauen. Der Pionier der Stressforschung, Hans Selye, kam zu der Erkenntnis, dass man zwischem positiven Stress (Eustress, das Wort eu kommt aus dem Griechischen und heißt gut) und negativem Stress (Disstress) unterscheiden muss.

Laut Selyes Definition zeigt sich Distress in einem Zustand der Überlastung und Überforderung, in dem der Einzelne wenig Spielraum zur individuellen Bewältigung hat. Beispiel: Der Arbeitnehmer wird von seinem herrischen Chef so mit Arbeit zugeschüttet, dass er Überstunden ohne Ende klopfen muss und trotzdem nie ein Ende der Arbeit in Sicht ist. Also der übliche Ausfluss unserer kranken Arbeitswelt.

Wenn ich dagegen viele Aufgaben unter Zeitdruck erledigen muss, dabei aber voll in der Sache aufgehe und mit Begeisterung auf mein Ziel hinarbeite, dann handelt es sich um Eustress. Beispiel: Ein Selbstständiger bringt seinen ersten großen Onlinekurs heraus oder zwei jungen Menschen planen monatelang ihre Traumhochzeit.

Letzteres kann ich aus eigener – wenn auch schon etwas länger zurück liegender – Erfahrung zu 100 Prozent bestätigen. Grundsätzlich ist an dem Konzept auch nichts verkehrt, da es in der Tat riesige Unterschiede gibt, wie ich Stress erlebe und wie mein Körper darauf reagiert.

Der gute und schlechte Stress des Redakteurs

So habe ich es während meiner Redakteurszeit als fürchterlich stumpfsinnig und im negativen Sinne stressig empfunden, wenn ich tageweise schlecht geschriebene Artikel anderer Menschen redigieren (also korrigieren, Struktur verpassen und stilistisch auf Niveau bringen) musste.

Ganz im Gegensatz zu den Abenden, wenn ein sportliches Großereignis in unserer Stadt stattfand. 21.30 Uhr Abpfiff, zurück in die Redaktion rasen, Texte schreiben, Bilder heraussuchen, Bildunterschriften verfassen, mit den Kollegen abstimmen, sich noch Stimmen aus der Pressekonferenz durchfunken lassen, die Seite Korrektur lesen und dann zwei Minuten vor Redaktionsschluss um 22.30 Uhr zur Belichtung freigeben. Danach vollkommen geflasht von all dem Adrenalin, das durch den Körper geschossen ist, aber hochzufrieden und glücklich-beseelt nach 12 Stunden im Dienst das wohl verdiente Feierabendbier mit den Kollegen geköpft und mir gedacht: “Was für ein geiler Tag!” Eustress im besten Sinne.

Aber was passiert, wenn solche Arbeitstage nicht einmal im halben Jahr oder einmal im Monat vorkommen? Sondern ein-, zwei- oder dreimal pro Woche? Oder noch öfter? Da können dir in den einzelnen Eustress-Momenten noch so viele aufputschende Stoffe wie Epinephrin, Norepinephrin und Cortisol durch den Körper schießen: Sie sind und bleiben Stresshormone. Und je öfter und je stärker dein Körper ihnen ausgesetzt ist, desto eher macht er schlapp. Und fragt nicht eine Sekunde danach, ob das jetzt Distress oder Eustress war.

Warum Eustress so gut in unsere Gesellschaft passt

Eustress ist deshalb so gefährlich, weil er perfekt in die heutige Zeit passt. Alle wollen ihre Leidenschaft finden, für die eine, große Sache brennen, sich darin verlieren und notfalls 12 Stunden täglich alles für den großen Traum tun. Was soll auch schlimm daran sein? Fühlt sich doch angenehm an, wenn ich in diesen Zuständen von Glück und emotionaler Aufgeregtheit scheinbar unbesiegbar bin und von einem Erfolg zum nächsten eile.

Womit wir schon beim doofsten und abgedroschensten Spruch aller Zeiten (zumindest nach meiner bescheidenen, subjektiven Meinung) angelangt wären:

Tu, was du liebst und du musst nie wieder arbeiten.

Ich bekomme regelmäßig einen Schreikrampf, wenn ich diesen Quatsch lese. Tag und Nacht arbeiten ist super, wenn ich meine Tätigkeit nur liebe und sie mich 100 Prozent ausfüllt. Nein, ist es nicht!

Erstens, weil zu jeder Art von (Erwerbs-)Tätigkeit auch Bereiche zählen, die fürchterlich nervtötend, langweilig und zeitraubend sind. Diese Momente fühlen sich nunmal als harte Arbeit, als Schufterei an und nicht als Lifestyle-Business.

Zweitens (und noch viel wichtiger): Jeder Körper braucht genug Ruhephasen. Ganz dringend. Ohne Wenn und Aber. Stressige Tage oder Phasen sind völlig okay und gehören zum Leben dazu. Aber dann müssen Pausen her.

Ein nettes Magengeschwür als Belohnung?

Auf Dauer fragt dein Körper nämlich nicht danach, wie berauschend du jeden einzelnen Arbeitstag empfunden hast. Sondern danach, wie viel Zeit zum Regenieren, Innehalten und im besten Fall sogar Müßiggang du ihm gegönnt hast. Fällt deine Antwort nicht überzeugend aus, hat dein Körper als Belohnung für dich ein nettes Magengeschwür, hohen Blutdruck, ein geschwächtes Immunsystem oder so eine nette, kleine Depression (sorry, Burnout natürlich, schließlich hast du ja vorher etwas geleistet; Depressionen haben nur Arbeitslose und Rentner) im Gepäck.

Doch leider ist gestresst sein ein Gütesiegel unserer Gesellschaft. Kein Wunder, dass es lange Wartelisten bei Therapeuten und psychosomatischen Kliniken gibt. Dort tummeln sich als Patienten längst nicht nur überforderte Pflegekräfte, die selbst krank geworden sind, sondern auch jede Menge Kreative, Künstler, Selbstständige – also allesamt Menschen, die sich wahrscheinlich lange in der Unbesiegbarkeit des Eustress gewähnt hatten.

Auch wenn dich dein Job, dein Projekt, dein Herzensanliegen, dein Lebenstraum noch so sehr ausfüllt und mit positiver Energie kurzzeitig flutet: Vergiss nie, welche Prozesse dabei ablaufen und entscheide dich auch mal bewusst gegen Arbeit.

Was meinst du, wie positiv dein Körper darauf reagiert, wenn du viel mehr von dem tust, für das du keine Zeit zu haben glaubst: Freunde treffen, mit deinen Kindern herumtollen, Reisen, gutes Essen kochen, in der Natur sein oder einfach nur gnadenlos faul sein?

Gute Beispiele für stressfreieres Leben

Gute Beispiel gibt es genug: So wie Tanja, die zwar viele Herzensprojekte hat, sich als selbst ernannte Teilzeitnomadin aber weigert, 40 Stunden in der Woche zu arbeiten, weil sie viel zu neugierig auf die Welt ist und noch so viel erleben will. In diesem Artikel beschreibt sie sehr schön, warum ihr Erinnerungen und Erfahrungen viel wichtiger sind als die vermeintliche Sicherheit eines Fulltime-Jobs.

Oder wie Florian vom Blog Flocutus, der seit Jahren durch die Welt reist und in diesem Beitrag erzählt, warum für ihn 500 Euro Einnahmen im Monat völlig ausreichend sind und warum er sich trotzdem als reicher Mann fühlt.

Spannend fand ich auch das Eingeständnis von Jasmin und Patrick, die mit ihrem Blog Healthy Habits ein echtes Herzensprojekt auf die Beine gestellt haben. Trotzdem trägt sie die Sache, für die sie brennen, nicht mühelos durch den Tag. Nach der Eustress-Theorie müsste es ihnen ja blendend gehen, weil sie IHR Ding machen. Doch in diesem Artikel erzählen sie, wie sie manchmal vormittags schon völlig erschöpft sind. Immerhin gönnen sie sich dann die nötigen Pausen und erzwingen nichts.

Beeindruckend fand ich auch die Worte des US-amerikanischen Autors Scott Binder, der auf alternative Weise seine Krebserkrankung therapiert hat. Er hatte sich immer um Dinge gekümmert, die ihm sehr wichtig waren. Und trotzdem ging es am Ende meist nur um den nach außen sichtbaren Erfolg. In dem Artikel wird er so zitiert: “Aber in den letzten paar Monaten hat sich meine Vorstellung über Erfolg komplett geändert. Heute ist meine Vorstellung von Erfolg davon definiert, ob ich in Kontakt mit purer Liebe, dem Geist von Jugend, Kreativität bin und ob ich das Leben mit einem offenen Herzen genieße.”

Letzteres Beispiel soll auf keinen Fall signalisieren, dass Scott Binder aufgrund von zu viel (Eu)Stress krank geworden ist. Es geht mir eher darum zu zeigen, dass es im Leben noch viel wichtigere Dinge gibt als die nach außen wahrnehmbare Selbstverwirklichung im (Arbeits-)Leben.

Nach dem Stress von über 1300 Wörtern lege ich mich jetzt erstmal hin und schlaf ne Runde.

Wie viel Stress findest du noch tolerierbar? Hast du Tricks, wie du dich in Eustress-Phasen selbst zügeln kannst? Oder findest du es völlig in Ordnung, mal so richtig durchzubluffern, wenn man 100 Prozent hinter einer Sache steht, auch wenn der Körper dabei ein wenig leidet? Ich bin sehr gespannt auf deinen Kommentar und freue mich darauf!

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