Der Arbeitnehmer von heute. Im besten Fall: desillusioniert und schicksalsergeben. Im zweitbesten Fall: frustriert, genervt, müde. Im schlechtesten Fall: depressiv, erschöpft, hoffnungslos.

Ist das eine bösartige Übertreibung von mir oder eine realistische Darstellung unserer hochmodernen Arbeitswelt? Meine eigenen Erfahrungen zum Thema “Arbeit und Psyche” sowie viele Gespräche, Artikel und Bücher führen mich zu folgender Antwort: Zweiteres stimmt. (Auch wenn es Angestellte gibt, die mit sich und der Arbeitswelt völlig im Reinen sind – hier ein interessanter Blogartikel dazu).

Aus meiner Sicht leben wir in einer kranken Arbeitswelt, in der nur noch Leistung, Effizienz, Druck und Arbeiten bis zur Selbstaufgabe zählen und in der die Menschlichkeit gern an der Garderobe abgegeben wird. Die Spielregeln in den Büros sind klar: Arschkriecher, Blender und Bücklinge werden was auf der Karriereleiter. Sensible, Freigeister und Maulaufreißer bekommen was auf den Deckel (und werden sicherlich auch nichts).

Ich habe in meinen 11 Jahren bei der Zeitung Menschen erlebt, die von mutigen, aufrechten Männern zu feigen, unterwürfigen Befehlsempfängern mutiert sind (zum Glück auch genug andere). Perfekt eingenordet, 1-A-Verwendungsmasse. Ein Traum für alle Geschäftsführer dieser Welt, deren interne Firmenphilosophie Angst und Ausbeutung ist.

Deshalb stelle ich mir 2 Fragen zu Arbeit und Psyche:

1.) Kann man in einer kranken Arbeitswelt überhaupt psychisch gesund bleiben, wenn man zu den Sensiblen, Nachdenklichen, Hinterfragenden, Nicht-10-Stunden-Belastbaren und Freiheitsliebenden gehört? Zu denen, die sich trauen, in erster Linie Mensch zu sein und erst dann Arbeitsausführungs-Gehilfe?

Antwort: Meiner Meinung nach ist das sehr schwer bis kaum möglich. Wenn ich Studien lese, dass heutzutage jeder Fünfte durch seinen Job psychisch krank wird, wundere ich mich nicht. Zwar hat solch eine Erkrankung nie ausschließlich mit dem Arbeitsplatz zu tun. Aber die Bedingungen können gewaltig dazu beitragen. Wenn du nicht ein Leben führst, das zu dir passt, dann meldet sich dein Körper irgendwann mit all den bekannten Folgen.

2.) Und wie findet man sich nach einer unfreiwilligen Auszeit wieder in der Arbeitswelt zurecht? Kann man nach einer längeren Krankheit, zum Beispiel durch Depression oder Angsterkrankung, einfach so weitermachen wie vorher? Oder ist nun der große Einschnitt im Leben fällig?

Antwort: Das ist eine der schwierigsten Fragen des Lebens. Ein Prozess, der am meisten Angst einflößt und weh tut. Zumindest denen, für die sich die Frage überhaupt stellt. Denn laut Statistiken arbeiten nur 10 Prozent aller Menschen, die schon einmal wegen einer schweren psychischen Erkrankung länger ausgefallen sind, noch in regulären Jobs Voll- oder Teilzeit.

Als ich diese Zahl vorher bei meiner Recherche gelesen habe, bin ich erschrocken. Augenscheinlich gibt es zwar jede Menge Jobs, die Menschen psychisch krank machen. Aber kaum Arbeitsplätze, an denen diese Menschen später noch gebraucht werden. Oder an denen sie es nach ihrer Rückkehr dauerhaft aushalten können.

Show must go on am alten Arbeitsplatz

Wenn ich es nicht am eigenen Leib erfahren hätte, würde ich das wahrscheinlich nicht glauben. Du denkst insgeheim, dass dein Chef an deiner psychischen Gesundheit interessiert sein müsste. Oder deine Kollegen nun etwas nachsichtiger bezüglich deiner Belastungsfähigkeit sind (meine Kollegen waren das, aber ich kenne sehr viele Fälle, in denen das niemanden interessiert hat). Doch letztlich bist und bleibst du nur ein Rädchen im Getriebe. Show must go on. Falls du die Party nicht mehr mitfeiern willst, musst du eben gehen.

Die schlechte Nachricht für alle, die zurückkehren und trotz allem bleiben: Sie sind angezählt. Du bist der oder die mit dem Hau weg. Kann man dir bei verantwortungsvollen Projekten wirklich über den Weg trauen? Oder bist du der große Unsicherheitsfaktor, der jederzeit wieder ausfallen kann? Egal, ob du dich vollständig geoutet hast oder nur ein Teil der Kollegen Bescheid weiß und alle anderen tuscheln: Es wird nicht mehr so sein wie vorher.

Allein schon deshalb, weil du höchstwahrscheinlich nicht mehr so leistungsfähig bist wie früher. Und genau weißt, dass du auf dich und deine Energiereserven achten musst. Aber a) interessiert das in der Regel niemanden und b) wirst du dazu neigen, dir mehr aufzuladen, als dir gut tut. Schließlich ist doch in uns allen tief verwurzelt, dass wir vollwertige Mitglieder der Leistungsgesellschaft sein wollen. Und schon fängt die Spirale schon wieder an, sich zu drehen …

Doch was tun?

Ich sehe einen klaren Trend (auch wenn ich dazu keine belastbaren Zahlen habe): Viele Menschen nehmen ihr Schicksal in die eigene Hand. Sie schmeißen hin, flüchten aus den verhassten Jobs, weil sie nicht mehr können und wollen. Manche rechtzeitig, viele erst, wenn ihre Psyche ihnen Signale gegeben hat, die sie nicht mehr übersehen konnten.

Ich beobachte diese Entwicklung mit Spannung und Freude. Sie ist so ein wunderbarer Gegenpart zu “Mein Haus, mein Auto, mein Segelboot”. Die neue Losung lautet: “Meine Zeit, meine Gesundheit, meine Freiheit”.

Den super einfachen Weg in die Selbstständigkeit oder zum besser passenden Job gibt es leider nicht. Ich lese immer sehr gerne über die Entwicklung von Menschen, die aufgebrochen sind. Über ihre Fortschritte und Rückschläge. Je ehrlicher, desto besser. Wie diesen Artikel von Sarah von verwandert oder diesen Beitrag von Suzanne von free your work life oder diesen hier von wendungsReiche Kommunikation.

Ins Meer der Unsicherheit gestürzt

In der Blogger-Szene gibt es noch viele weitere Beispiele von Menschen, die ihr Leben umgekrempelt haben und sich nun in das Meer der Unsicherheit stürzen. Wahrscheinlich gäbe es nicht halb so viele gute Blogs, wenn nicht so viele Leute psychisch erkrankt wären und danach in ihrem Leben kaum mehr ein Stein auf dem anderen gelassen haben.

Doch warum tun die das? Und wie bitteschön kann man denn den Mut aufbringen, seinen Job zu kündigen und/oder sich selbstständig zu machen, wenn man so viel Angst hat oder depressiv ist?

Einfache Antwort: Weil sie sich alle fragen, was wirklich wichtig im Leben ist und was sie für ein besseres Leben eigentlich brauchen. Plötzlich steht das Materielle nicht mehr im Mittelpunkt. Sondern der feste Wille nach einem (Arbeits-)Leben, das wirklich zu einem passt.

Letztlich ist es ja immer die eine, entscheidende Abwägung: um der angeblichen Sicherheit und des festen Gehalts wegen weiter leiden oder (erst einmal) Nachteile in Kauf nehmen und dafür Gesundheit und Freiheit gewinnen.

Soll sich jetzt jeder psychisch Kranke selbstständig machen?

Ähm, nächste Frage bitte! Nein, im Ernst: Ich sehe für Menschen, die dank therapeutischer Unterstützung wieder arbeiten können und wollen, wirklich eine große Chance in einer wie auch immer gearteten Selbstständigkeit. Vielleicht denkst du die ganze Zeit beim Lesen: “Das ist doch ein viel zu krasser Schritt. Das schaffe ich nie.”

Da halte ich entgegen: Wenn ich das geschafft habe, dann schaffen das viele andere auch. Ich sehe es sogar langfristig als die beste Möglichkeit zur vollständigen Gesundung, wenn du nicht mehr die Arbeit machen musst, die dich krank gemacht hat.

Und du kannst endlich deinen Arbeitsrhythmus dem Rhythmus deines Körpers anpassen. Du kannst flexibel mit deinen Hochs und Tiefs umgehen und musst niemanden um Erlaubnis fragen, wenn du einfach mal ein paar Tage aussetzen willst. Diesen Punkt hatte ich damals bei meiner Entscheidung gar nicht auf der Rechnung. Im Nachhinein gesehen ist er sogar der wichtigste. So konnte ich mir während der Absetzsymptome beim Ausschleichen der Antidepressiva die nötige Ruhe gönnen. In keinem Job der Welt hätte ich diese Möglichkeit gehabt. Wer weiß, ob ich das Teufelszeug je losgeworden wäre, wenn ich mir da nicht die entsprechende Zeit hätte gönnen können.

Meine wichtigsten Pluspunkte, die meinen Übergang erleichtert haben:

  • Ich bin bereit, mich erst einmal auf das Nötigste zu beschränken (incl. Konsumstreik)
  • Ich habe die feste Gewissheit, dass alles Kommende besser wird als das, was war (und werde niemals müde, mein Wort für artgerechte Menschenhaltung in Betrieben zu erheben).
  • Ich stelle meine Gesundheit an die vorderste Front aller Überlegungen und Entscheidungen.
  • Ich habe gerne weniger Geld, wenn ich dafür Zeit und Freiheit genießen kann.
  • Ich habe genug Fantasie, um mir ein dauerhaftes Leben ohne festen Arbeitsplatz vorstellen zu können.
  • Ich bin bereit für Veränderungen – ganz egal, wie groß diese sein werden.

Eine kurze Geschichte zum Schluss

Es ist jetzt November 2017. Zwei Jahre, nachdem ich den Artikel geschrieben habe. Würde ich ihn heute noch genauso formulieren? Großteils ja. Wahrscheinlich würde ich weniger aus der Opferrolle heraus argumentieren, da wir außerhalb des Jobs (und sogar innerhalb) doch deutlich mehr Gutes für uns tun können, als es die meisten tun. Dr. Christian Dogs beschreibt das sehr schön in seinem durch und durch empfehlenswerten Buch “Gefühle sind keine Krankheit“.

Persönlich bereue ich es zu keiner Sekunde, den Weg gegangen zu sein. Nicht, weil alles easy peasy von selbst läuft und mir nur die Sonne aus dem Hintern scheint. Sondern weil ich so viel über mich und das Leben gelernt habe, so unglaublich faszinierenden Menschen begegnet bin und nun weiß, dass meine Arbeit immer eine sein wird, die ich selbst bestimmen kann. Alles andere wäre Verrat an meinen wichtigsten Werten.

Update Juli 2019: Wie sieht es heute bei mir aus?

Ich bin tatsächlich immer noch selbstständig und glücklich über diesen Entschluss. Es gibt für mich nichts Wichtigeres, als mein eigener Boss zu sein, niemanden um Erlaubnis fragen zu müssen und zu 100 Prozent flexibel auf das zu reagieren, was das Leben gerade von mir will.

Ende 2017 stand plötzlich fest: Ich kann und will nicht mehr als freier Journalist arbeiten. Kurzerhand kam der Entschluss, nun alles auf die Karte Coach und Seminarleiter zu setzen. Volles Risiko, voller Erfolg. Aus einem Angestelltenverhältnis heraus hätte ich mir diesen Schritt nie zugetraut. Doch ich wusste ja durch meine Erfahrungen schon, dass mir nie etwas passieren kann, wenn ich meinem Herzen folge und meinen Weg konsequent weiterschreite.

Nun, Mitte Juli 2019, habe ich schon 10 Seminare gegeben und zusammen mit den Coachings schon über 150 Menschen auf ihrem Weg zu einem mutigeren Leben in voller Eigenverantwortung begleitet. Gerade habe ich meinen zweiten Buchvertrag unterschrieben – weil ich mir eben herausnehmen kann, am Ende jedes Jahres einen Monat abzutauchen und mich einem neuen Werk zu widmen.

Das alles sind Dinge, die mein Herz höher schlagen lassen. Mir geht es richtig, richtig gut mit meiner Entscheidung für das Risiko. Und ich ahne, da kommen noch viel wildere Sachen auf mich zu …

Foto: Unsplash.com

Wie waren deine Erfahrungen in der Arbeitswelt bisher? Hast du Ähnliches erlebt wie ich? Und standest du oder stehst du auch vor der Entscheidung, dich für oder gegen einen Job entscheiden zu müssen, der dir nicht gut tut? Ich bin sehr gespannt und freue mich auf deinen Kommentar!