Komisches Thema, oder? Angst bringt den Menschen doch gar keine Vorteile. Sondern hält sie fest, bedrängt sie, stellt komische Dinge mit ihren Körpern an, lähmt sie und macht ihr Leben zur Hölle.
Richtig? Ja. Und nein.
Ja, wenn du glaubst, dass gewisse Gefühlszustände oder Krankheiten einfach vom Himmel fallen und überhaupt nichts mit dir und deinem Leben zu tun haben.
Nein, wenn du anfängst ehrlich zu reflektieren und dir die Hintergründe aus der Nähe anschaust (am besten mit Hilfe von außen, in welcher Form auch immer).
Was fand die treue Begleiterin an mir so faszinierend?
Genau genommen wollte ich in dieses Thema gar nicht mehr so tief einsteigen. Wie du weißt, ist mein Fokus voll nach vorne gerichtet. Aufs Mut machen, ermuntern und mit gutem Beispiel voran gehen und nicht mehr in den alten Kisten wühlen.
Trotzdem hat mir in den letzten Wochen diese Frage in meiner Aufbruchstimmung keine Ruhe gelassen: Welche Vorteile habe ich aus meiner Angst gezogen, dass ich sie solange in meinem Leben gehalten habe?
Es muss ja welche gegeben haben, sonst wäre sie ja nicht über Jahrzehnte meine so treue Begleiterin gewesen. Jemand hält es nur bei dir aus, wenn er dich faszinierend findet, wenn du ihm immer wieder das gibst, was er braucht.
Und was mag die Angst besonders gerne? Richtig: Heftiges Widerstreben gegen Veränderungen, großes Selbstmitleid in der Opferrolle, ungesunde Verhaltensweisen und (zumindest bei Männern) den Versuch, das Ganze irgendwie geheim zu halten und nur mit niemandem offen darüber zu reden.
Bingo! Hab ich ihr alles gegeben. Gute Freunde kann niemand trennen.
Ich selbst fand meine Begleiterin auch äußerst attraktiv, so viele angenehme Dinge, wie sie auf unserem gemeinsamen Weg immer im Gepäck hatte. Wird höchste Zeit, das alles mal aufzuzählen:
Welche Vorteile hatte ich davon?
- Ich musste keinen einzigen Gedanken daran verschwenden, ob ich an meiner Lage etwas ändern kann.
- Ich musste nicht großartig darüber nachdenken, was meine Werte und Ziele sind.
- Ich musste nicht reflektieren, ob der Job, den ich mehr als 10 Jahre lang ohne Murren ausgeführt habe, mit all seinen Begleiterscheinungen auch nur ansatzweise zu meinen Werten und Bedürfnissen passt.
- Ich musste mich keinen Träumereien hingeben, was das Leben sonst noch für mich zu bieten hätte.
- Ich musste nichts wagen und konnte mich schön in der Komfortzone einigeln.
- Ich musste keine abgefahrenen Sachen ausprobieren, die meine Emotionen berühren und mit denen ich zu tieferen Erkenntnissen gelangen kann.
- Ich konnte mit gutem Gewissen komplette Winterwochenenden auf dem Sofa liegen und Sport im Fernsehen schauen.
- Ich hatte einen perfekten Grund, um richtig viel zu saufen.
- Ich konnte meinen Wert über den Grad meines Schmerzes, den mir das Leben zufügt, bestimmen.
- Ich musste auf längeren Urlaubsreisen mit dem Auto nicht mehr selbst fahren.
- Ich lief keinerlei Gefahr, in ein Flugzeug zu steigen und von der Sehnsucht gepackt zu werden, noch viel mehr von der Welt sehen zu wollen.
- Ich musste mich anderen Menschen nicht öffnen und konnte mein Leben perfekt in der ironisch-abwartenden Haltung verbringen.
- Ich musste keine größeren Emotionen zeigen (außer in Sportstadien).
- Ich musste lieben Menschen nicht sagen und zeigen, wie viel sie mir bedeuten.
- Ich durfte alles und jeden kritisieren und allen Menschen mit meiner Rechthaberei und Diskussionsfreude auf den Sack gehen.
- Ich konnte immer schön in meinem Gedankenkarussell bleiben und musste dabei die Bedürfnisse anderer Menschen nicht näher wahrnehmen.
- Ich durfte frei jeder Spontanität und Flexibilität agieren.
- Ich musste nicht leben und durfte gelebt werden.
Huiuiui, da ist ja mehr zusammengekommen, als ich zu Beginn des Artikels geahnt hätte. Sehr, sehr spannend wieder einmal dieses selbst therapeutische Schreiben.
Freiheit ist viel wichtiger als Angst
Alle Vorteile zusammen genommen wiegen aber nicht annähernd den riesengroßen Nachteil auf, den ich hatte: Ich war nicht frei. Da Freiheit auf meiner Werteskala ganz oben zu finden ist (ja, so etwas kann selbst ein verheirateter Mann schreiben, Augen auf bei der Partnerwahl!), fehlte mir lange Zeit der entscheidende Baustein für ein richtig gutes Leben.
Bin ich jetzt frei von Angst? Vermutlich wäre so eine Behauptung vermessen. Wie viele Menschen können überhaupt so etwas von sich sagen?
Ich formuliere es anders: Ich fühle mich derzeit frei von allen Ängsten, die mich gehindert haben, mir mein bestes Leben in all seinen Facetten zu gestalten und es dementsprechend zu genießen.
Es gibt immer noch genug Dinge, bei denen mein Herz schneller schlägt. Ich mag es, diese Aufregung wahrzunehmen und die Sachen dann trotzdem oder gerade deswegen anzupacken.
So wie kommenden Samstag, wenn ich bei einem Treffen von (angehenden) Online-Unternehmern meinen ersten Workshop halten werde. Ich weiß, welchen Schub ich dadurch bekommen werde und freue mich deshalb – bei aller Aufregung – tierisch auf die Herausforderung.
Wollen wir zusammen kuscheln?
Ob, wann, wie und wo auch immer sich die eine oder andere Angst nochmal meldet und sagt: “He Kumpel, lange nicht gesehen – wollen wir nicht mal wieder zusammen kuscheln?”, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich diese Zustände nicht mehr heraufbeschwöre, indem ich die ganze Zeit in Schreckensszenarien der Vergangenheit bade und damit um die Aufmerksamkeit der Angst bettle.
Ich bin nun ganz anders gewappnet, habe jede Menge Erfahrung und Werkzeuge in meinem Kasten. Mit diesem marschiere ich mutig über meine Spielwiese der Freiheit.
DAS ist für mich ein echter Vorteil.
P.S.: Den größten Vorteil habe ich noch gar nicht erwähnt, weil er genau genommen ein nachgelagerter ist, also keiner war, der mich in der Angst gehalten hat: Ich konnte einen Blog starten, der sich mit dem Thema Angst beschäftigt und habe darüber so unfassbar viele großartige, herzliche, mitfühlende, lustige Menschen kennengelernt. Dieser Umstand erlaubt mir eine große Dankbarkeit für mein früheres Leben.
Kennst du das auch von dir oder anderen, dass du unter Dingen leidest, die dir bei genauem Hinsehen Vorteile bringen? Welche Erfahrungen hast du damit gemacht und wie schwierig ist oder war es, dir das einzugestehen? Ich finde das Thema super spannend und freue mich auf viele Beispiele in den Kommentaren!
Foto: Unsplash.com
Hi Mischa,
gefällt mir sehr was du geschrieben hast. Angst hat ja auch ihren Sinn. Ein Mensch, der keine Angst hat wird denke ich nicht lange leben 😀
Man muss nur manche Ängste bekämpfen bzw. sie akzeptieren. Das ist das schwere.
Liebe Grüße
Dario
Hi Dario,
danke fürs Lob 🙂
In der Tat hat diese in den Genen angelegte Angst vor dem Abstürzen aus der Höhe und wilden Tieren seinen Sinn. All die anderen Ängste, die wir uns so draufschaffen, hegen und pflegen, aber nicht.
Und bekämpfen kannst du die Angst eh nicht. Du kannst dich nur stellen, wenn sie da ist und durch die Art, wie du dein Leben führst und welchen Gedanken du denkst, dafür sorgen, dass sie gar nicht so oft vorbeischauen will.
Liebe Grüße
Mischa
Lieber Mischa,
Wunderbarer Artikel! Wieder mal! Sowas von wichtig die guten und auch positiven Seiten der Angst zu sehen. Also welche Funktion die Angst in unser aller Leben hat. Sie will uns vor Gefahren schützen. Und manchmal ist sie, sagen wir, etwas überfürsorglich. Sie will uns vor Dingen beschützen bei denen wir keinen Schutz brauchen oder wollen. Da kann sie schon manchmal ganz schön beharrlich und vielleicht auch nervig werden. Aber wenn wir sie liebevoll zur Seite bitten und sie auch gerne mit auf den Weg kommen darf wird sie uns immer ein treuer Begleiter sein, die uns sagt, wann wir auf dem richtigen Weg sind. Nämlich dann, wenn das Herz pocht!
Alles Gute,
Sandro
Lieber Sandro,
vielen Dank für die Blumen!
Ja, diese ewige Übervorsorge 😉 Bis ich das mal kapiert hatte …
Danke für die schöne Zusammenfassung bzw. Ergänzung und mögen wir immer die besten Begleiterinnen auf unserem Weg haben.
Liebe Grüße
Mischa
Hi Mischa,
ein schöner Schreibimpuls! Hat mich animiert, auch mal eine Liste zu machen, was meine Ängste mir bringen. Ich fokussiere mich ja lieber ganz weg davon und auf positive Ziele, aber manchmal ist es auch gut, hinzugucken, selbst wenn’s wehtut 😉 Sonnige Grüße, Paul
Hi Paul,
ich hoffe, es hat nicht allzu sehr weh getan 😉
Ich sehe so eine Liste auch gar nicht als Fokussieren auf die Angst, sondern im Gegenteil als einen wichtigen Teil, um Abstand zu gewinnen und einen vielleicht auch humorigen Blick auf das eigene Innenleben zu bekommen.
Insofern weiter viel Freude beim Schreiben und liebe Grüße
Mischa
Toller und ehrlicher Artikel, und beim lesen deiner Liste hab ich mich an einigen Stellen ertappt gefühlt… ?
Gerade ist mir nämlich klar geworden, dass ich mich auf dem Weg zu einer beruflichen Veränderung selbst blockiere, durch Glaubenssätze und Verhaltensweisen hinter denen – Überraschung – als Triebfeder meine Angst steckt: davor, meine Komfortzone verlassen zu müssen, Risiken einzugehen und Veränderungen zuzulassen. Anstatt meine Energie in Richtung meiner neuen Möglichkeiten zu lenken, verausgabe ich mich dabei, mit Vollgas in die altbekannte Richtung (weg) zu rennen (Flucht), alte Vermeidungsstrategien auszugraben und mich abzulenken, um mich nicht damit auseinander setzen zu müssen. Wunderte mich aber gleichzeitig, warum ich so erschöpft war in letzter Zeit… Nach dieser (erstmal schmerzhaften) Erkenntnis werde ich jetzt damit aufhören, meine Energie sinnlos zu verpulvern und mich darauf konzentrieren, endlich die notwendigen Veränderungen in Angriff zu nehmen…
Liebe Grüße & weiter so!
Carina
Hi Carina,
wow, so viele Erkenntnisse auf einmal? Ist doch spannend, was plötzlich zu Tage kommt, was du eh die ganze Zeit schon wusstest und was nur noch diesen einen kleinen Auslöser brauchte. Und ich bin dankbar, dass ich den mit meinem Artikel liefern durfte 🙂
Ich wünsche dir ganz viel Mut und Freude beim Verändern. Du bist ja schon mitten drin.
Ganz liebe Grüße
Mischa
Ach Mischa, wie passend, dass der Artikel genau jetzt in meiner Facebook Timeline gelandet ist.
Ich bin im Sommer 7 Wochen durch Nordskandinavien und Finnland gewandert und (ohne, dass ich das jemals wollte) hat es mein Leben auf den Kopf gestellt. Mir sind so viele Dinge bewusst geworden, mit denen ich mich vorher nie beschäftigt habe (oder beschäftigen wollte), diese Dinge umzusetzen erforderte aber Veränderung. Und Veränderungen im Leben zwingen uns noch mehr aus der Komfortzone herauszugehen, was nun, nicht immer sehr angenehm ist. Eine davon habe ich sofort umgesetzt: ich habe mich von einer langjährigen Beziehung getrennt. Das tat so weh, dass ich erstmal mit der Umsetzung der anderen Dinge gewartet habe und gleichzeitig meiner Wanderung Schuld an der ganzen Misere gab. Ich dachte, wäre ich den Nordkalottleden nie gewandert, wäre ich jetzt wahrscheinlich genau so zufrieden wie vorher und müsste mich mit dem Schmerz nicht auseinandersetzen.
Aber: das Leben besteht nur mal aus Höhen und Tiefen und das ist verdammt gut so. Lieber leiden, dafür aber umso glücklicher sein als in einer langweiligen Monotonie zu versinken.
(mittlerweile denke ich, dass die Wanderung mit allen ihren Konsequenzen das beste war, was mir in 25 Jahren passieren konnte, was mir wiederum endlich den Anstoß gibt, an meinen Blog weiter zu arbeiten :))
Liebe Grüße,
Ana
Ach Ana,
ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich dein Kommentar freut! Ich bin ein großer Bewunderer deiner tapferen Outdoor-Action im manchmal doch recht unwirtlichen Skandinavien. Umso schöner, dass du jetzt deinen Blog wieder mit neuem Leben füllen willst.
Danke, dass du uns an deinem Prozess teilhaben lässt, auch wenn er sehr schmerzlich ist (war). So Wanderungen bzw. einfach viel Zeit mit einem selbst ohne andere Pflichten können einen schon auf komische Gedanken bringen 😉 Ich finde das so cool, dass sich in diesen Momenten unsere innersten Bedürfnisse so klar zeigen, weil keine Schutzschicht der Ablenkungen mehr drum herumliegt. Plötzlich sind die Erkenntnisse da und man fragt sich: Wie konnte ich das die ganze Zeit übersehen?
Alles Liebe
Mischa