Tatort 1: Kürzlich auf einer Familienfeier. Der Onkel meiner Frau wird 70. Es gibt Mittagessen und um mich herum werden die Getränke bestellt: Rotwein, Weißwein, Bier. Ich: “Ein alkoholfreies Bier bitte!”

Fragende Blicke. Kurz wird abgeklärt: Bin ich schwanger? Nein. Bin ich Fahrer? Nein. Warum ich dann so was mache? Ich: “Weil ich Lust drauf habe und es mir gut tut.”

Aha. Meine Erklärung ist genial. Das Verständnis für mein Tun bewegt sich trotzdem eher im Bereich von “tanzt während der Weihnachtsmesse nackt im Petersdom” – oder so ähnlich.

Tatort 2: Gestern auf der Weihnachtsfeier einer örtlichen Marketingagentur, für ich dieses Jahr ein paar schöne Aufträge als Freelancer erledigen durfte. Treff ist auf dem Weihnachtsmarkt. Der Chef begrüßt mich und fragt: “Glühwein rosso oder bianco?” Ich: “Eine Cola bitte!”

Erstaunter Blick. Nachfrage, ob ich das ernst meine. Ja, das tue ich. Keine Abklärung, ob ich schwanger oder Fahrer bin. Ich bekomme meine Cola.

Später im Restaurant. Interessiert-staunende Nachfrage des umsichtigen Kellner, ob ich wirklich weder den wunderbaren Weiß- noch Rotwein probieren wolle. Nein. Ich vergnüge mich mit stillem Wasser, Tonic Water, alkoholfreiem Bier und lieben Gesprächspartnern bis 2.30 Uhr.

Wenig später zu Hause juble ich mir zu. Diesmal staune ICH über MICH. Ich habe es tatsächlich durchgezogen. Was war nochmal gleich mit dem fast drei Jahrzehnte super eingeübten Muster “Ich trinke auf Familien- und Weihnachtsfeiern immer viel, weil es nur dann richtig lustig ist”?

7 Stunden später wache ich auf. Etwas gerädert aufgrund der späten Einschlafzeit. Und mit klarem Kopf. Wie cool ist das denn? Ich kann selbst so eine alte Gewohnheit durchbrechen. Echt? Echt!

Wie kam es zu dem Experiment “Kein Alkohol ist auch eine Lösung”?

Wie du sicher weißt (oder das spätestens jetzt tust): Ich liebe solche Experimente. Bin immer neugierig, was mit mir und den anderen passiert, wenn ich Dinge völlig anders mache als früher.

Immer verbunden mit der Frage: Inwiefern kann ich Muster ändern, von denen ich weiß, dass sie mir nicht gut tun? Die gleichzeitig sehr fest mit meinem Leben verwurzelt sind und für langjährige oder kürzere Weggefährten zu mir zu gehören scheinen.

In vielen Bereichen habe ich diverse Kehrtwendungen hingelegt, alte Verhaltens- und Denkweisen auf den Kopf gestellt.

Beim Thema Alkohol wähnte ich mich auch auf einem guten Weg. Brauchte ihn nicht mehr wie früher als guten Freund gegen die Angst – wie ich es in diesem Artikel beschrieben habe.

Mein Umgang damit wurde viel entspannter. Alkohol spielte im täglichen Leben keine größere Rolle mehr. Belohnungsbier für das Durchhalten in der täglichen Sklaverei des Angestelltenseins? Nicht mehr nötig.

Doch bei Festen darf “man” doch schon mal über die Stränge schlagen, oder?

Belohnt wurde ich nach der Hochzeit eines guten Freundes im September 2015 mit einer fetten Magenentzündung.

Und nach der Weihnachtsfeier besagter Marketingagentur im Vorjahr mit einem gefühlt mehrtägigen Kater (übrigens eine Spitzenidee, sich den neuen “Kollegen” beim ersten Zusammentreffen im Vollrausch zu präsentieren, weitere Details nicht nötig). Plus einer Woche, in der es mir psychisch und physisch richtig dreckig ging.

Angst und depressive Gedanken kamen wieder herausgekrochen. Ein paar Tage lang habe ich das auf mich wirken lassen und trotz all meiner inzwischen vorhandenen Werkzeuge keine Bremse des anrollenden Depri-Zuges gefunden.

Es reicht!

Bis ich die Ansage meines Körpers endlich verstanden hatte: Schluss! Stopp! Es reicht!

Und ich es für mich klar bekommen habe: “Wie blöd muss ich sein, dass ich für ein paar Stunden Rausch alles aufs Spiel setze, was ich mir in meinem neuen Leben erarbeitet habe?”

Wie heißt es so schön: Veränderungen entstehen durch große Ziele oder große Schmerzen. Ich brauchte scheinbar nochmal die Qual, bis ich die Lektion gelernt hatte.

Seitdem bin ich Quasi-Abstinenzler mit oft vielen Wochen am Stück, in denen ich gar keinen Alkohol trinke. Im Vergleich zu früher ist mein – damals eh schon deutlich eingeschränkter Konsum – nochmal um geschätzt 95 Prozent gesunken.

So ganz nebenbei habe ich 7 Kilo abgenommen und bin beim Sport fitter denn je.

Warum ich nicht komplett verzichte? Ganz einfach. In meiner Welt haben sich radikale Lösungen in jedem Bereich des Lebens und Zusammenlebens weder als optimal noch als nachhaltig herausgestellt.

Vielleicht ergibt sich eine komplette Abstinenz irgendwann von selbst, ohne dass ich mir das vornehme. Oder auch nicht, das ist auch okay.

Was steckt hinter den alten Mustern?

Viel interessanter finde ich die Frage: Was steckte denn genau hinter dem alten Muster? Wieso habe ich mir so schwergetan, es zu durchbrechen bzw. kaum drüber nachgedacht, ob ich es durchbrechen sollte?

Dabei habe ich Folgendes analysiert (solche Übungen finde ich übrigens super spannend):

Wie sah das alte Muster aus?

Bei Familienfeiern, Festen, Geburtstagen & Co habe ich gerne (viel) Alkohol getrunken.

Warum habe ich das alte Muster beibehalten?

Ich war immer in bester Gesellschaft. Es ist völlig normal – ja geradezu sozial erwünscht – bei Festen über die Stränge zu schlagen. Alkohol trinken fast alle, weil es die Stimmung hebt und die Menschen gelöster macht. Ich selbst glaubte dann als sonst eher sensibler und schüchterner Mensch, lockerer und lustiger zu sein als sonst. Ich habe mich diesem sozialen Druck gerne gebeugt und habe viele witzige Sachen dabei erlebt. Gemeinsame Räusche sind perfekte Anekdoten-Lieferanten.

Was passierte mit mir, wenn ich das als Muster beibehalten habe?

In seltenen Fällen ging es mir auch am nächsten Tagen blendend. In der Regel war ich mehr oder weniger stark verkatert. Der Körper spielte verrückt, Angst und Depression bekamen einen schönen Schub. Der Blutdruck ging in die Höhe und der Schlaf war tagelang deutlich schlechter als zuvor.

Was passierte mit den anderen, als ich das Muster durchbrochen habe?

Bei einigen kam der klassische Reflex der sozialen Programmierung: Der hat doch immer mitgemacht, der darf nicht ausscheren. Wenn der nicht trinkt, ist es vielleicht gar nicht richtig, dass wir trinken? Wir sollten ihn davon überzeugen, dass er so ein Außenseiter ist und animieren, mit uns Alkohol zu trinken (tendenziell männliches Verhalten). Andere finden es völlig okay oder äußern sich gar nicht dazu, weil es gar kein wichtiges Thema ist (tendenziell weibliches Verhalten).

Was passierte mit mir, als ich das alte Muster durchbrochen habe?

Ich habe mich genauso gut amüsiert und deutlich tiefer gehende Gespräche geführt. Die große Party-Ekstase nach dem Motto “Wie wenn’s kein Morgen gäbe …” blieb aus. Ich fand es spannend, der sozialen Erwünschtheit des Mittrinkens nicht nachzugeben. Es fühlte sich viel leichter an als gedacht. Und: Meinem Köper und Geist geht’s heute richtig gut.

Mein Geheimtipp gegen alte Gewohnheiten: agieren statt reagieren!

Ich wollte etwas verändern, was mir in der Vergangenheit nachweislich nicht gut getan hat. Deshalb habe ich mich gefragt, wie ich das strategisch am besten angehen kann.

Mein Entschluss: Ich gehe nicht hin und warte ab, was passiert und ob ich es durchhalte. Sondern ich überlege mir vorher, was wie passieren könnte und wie ich darauf reagieren werde.

Ich gehe in die Aktion und schütze mich selbst vor unerwünschtem Verhalten. So habe ich unter der Woche schon geschaut, ob es an dem Weihnachtsmarkt-Stand auch alkoholfreie Getränke gibt. Somit stand schon im Vorfeld fest: Wenn mich jemand fragt, was ich trinken will, bestelle ich eine Cola.

Zweiter Schritt: Ich erzähle allen, die es wissen wollen oder nicht schon vor der Feier, dass ich diesmal nichts trinken werde. Damit schaffe ich die Art von Verbindlichkeit (Commitment), die mich ziemlich doof aussehen ließe, sollte ich doch meinen Plan ändern.

Dritter Schritt: Ich erzähle auf dem Weg zum Restaurant jedem, der es hören will oder nicht, wie peinlich mir mein Auftritt vom Vorjahr war und dass ich allein schon deshalb diesmal nüchtern bleiben werde. Damit muss ich dann am Tisch nicht mehr diskutieren, es wissen ja eh schon alle.

Du denkst, das sei übertrieben? Kann sein. Bei mir zumindest funktioniert über den bloßen Willen allein nichts, wenn ich ein Verhalten ändern will.

Ich brauche ein paar Tricks, um mein an die Gewohnheiten trainiertes Gehirn auszutricksen. Einen schönen Artikel dazu, wie das gelingen kann, findest du übrigens hier in der ZEIT: Mach es anders!

Apropos alte Muster: Ich schreibe diesmal nicht, dass du gerne einen Kommentar zum Artikel abgeben darfst. Sondern höre einfach hier auf.

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