Ich traf ihn 2013 auf dem Weihnachtsmarkt im Hamburger Schanzenviertel. Ein Mann Ende 50, über den sich viele Menschen lustig machen oder ihn entsetzt ansehen. Wie soll es auch anders sein, wenn ein Obdachloser mit einer Art aufgestecktem Heiligenschein auf dem Kopf herumläuft, sich am Lagerfeuer tanzend mehrerer Kleidungsschichten entledigt (zugegebenermaßen war ich auch dankbar, dass er seinen Strip nicht vollendet hat) und mit lauter Stimme ständig fremde Leute anquatscht?

Vermutlich hätte ich früher auch versucht, schnell Abstand zu dem merkwürdigen Typen zu gewinnen. Einer, der so gar nicht in meine heile Mittelschicht-Welt passt. Was macht man mit solchen normalerweise? Peinlich berührt wegschauen, schnell weitergehen oder ab und an mal hastig eine Münze in seinen Hut werfen und sich dann unheimlich großzügig vorkommen.

Aber Horst hat gar nicht gebettelt. Er hat sich über den Glühwein gefreut, den ich ihm spendiert habe. Das war der Auftakt zu einem rund zweistündigen Gespräch, das für mich mit das intensivste und lehrreichste meines Lebens war. Weil ich durch meine eigene (Krankheits-)Geschichte und dem beschlossenen Ausstieg aus der Lohnsklaverei endlich bereit für neue Erkenntnisse war.

Horst war wunderbar, witzig, klug. Vor knapp drei Jahren hat er seine Zimmerei-Firma in der Nähe von Stuttgart verkauft, sich aus Holz eine Transporthilfe für seine wenigen Dinge gebaut und zieht seitdem durch die Gegend. Er könnte sich auch ein Zimmer in einer Pension leisten, lebt aber lieber auf der Straße.

Ein Mann also, der freiwillig seinen Status des erfolgreichen Unternehmers aufgegeben hat und aus Sicht des Otto Normalbürgers ganz unten angekommen ist. Aber aus der Sicht von Horst war genau das Gegenteil der Fall. Er sprühte vor Lebensfreude, weil er sich endlich von all den Zwängen, dem gesellschaftlichen (Erfolgs-)Druck, dem Leistungsdenken der schlecht gelaunten Nachbarn und so vielem anderen befreit hatte.

Ich gestehe, dass ich von dieser kompromisslosen Veränderung fasziniert bin (deswegen habe ich Horst auch in einem früheren Artikel schon einmal erwähnt). Nicht, weil ich selbst auf der Straße leben möchte. Sondern weil hier einer konsequent auf sich und seine Bedürfnisse gehört hat. Und es ihm völlig egal ist, ob irgendjemand die Nase über ihn und seinen Lebensstil rümpft.

Denn wir haben zwar in Deutschland kein offizielles Kastensystem wie in Indien. Aber genau genommen gibt es das natürlich, vor allem in unseren Köpfen. Ganz oben die Reichen (wahlweise erfolgreiche Unternehmer, Schauspieler, Fußballstars und andere), dann die Beamten, Angestellten und Arbeiter (natürlich gestaffelt nach Position und Höhe ihres Gehalts), dann Leiharbeiter (immerhin noch Arbeit!), Mini-Jobber (na ja, so ein bisschen Arbeit halt), Arbeitslose, Hartz-IV-ler und am Ende die Obdachlosen.

Um was geht es also letztlich? Um Geld und um Arbeit. Vor lauter Angst, unseren lieb gewonnen Stempel zu verlieren und im Kastensystem abzurutschen, geben wir immer Vollgas. Lassen uns lieber täglich erniedrigen und ruinieren dabei unsere Gesundheit, als nach Optionen für ein besseres Leben zu suchen. Ich weiß, wovon ich rede …

Und weil ich nicht mehr zu dem “wir” gehöre, frage ich mich, welcher Kaste ich denn in Zukunft zugeordnet sein werde. Aktuell bin ich Arbeitsloser ohne schlechtes Gewissen – per se ja schon ein Unding aus der Sicht des brav arbeitenden Bürgers.

Mit dem Beginn der Selbstständigkeit in zwei Wochen mache ich wahrscheinlich aus Volkes Sicht einen kleinen Schritt nach oben. Klingt ja zumindest ein bisschen nach Arbeit. Gut, ein Schreiberling halt. Künstler mit Flausen im Kopf, der den ganzen Tag nur im Café sitzt.

Ich gebe zu, dass ich an dem Gedanken gefallen finde, nicht mehr nach dem alten Strickmuster eingeordnet werden zu können. Im vergangenen Jahr habe ich entweder persönlich oder über diverse Blogs und Internet-Communitys so viele Menschen kennengelernt, die auch keine Lust mehr auf den klassischen Weg hatten oder haben.

So wie Steffi, die mit Mann und Hund seit 2009 in einem Mercedes Kurzhauber lebt und gerne in Portugal überwintert. So wie Timo, der am liebsten trampt, gerne auch mal im Segelboot über den Atlantik und ein Leben mit Freiheit und Abenteuern genießt. So wie Nima, die sich mit ihrem Freund, zwei Hunden und Reisemobil Horst (eine rein zufällige Namensgleichheit mit oben erwähntem Obdachlosen) im Herbst nach Spanien aufmacht und so schnell nicht wieder zurückkommen will. So wie Claudia und Andreas, die seit eineinhalb Jahren im Wohnmobil leben und arbeiten.

Keiner von ihnen passt in irgendein Schema. Keiner von ihnen geht den geraden Weg, den die Gesellschaft gerne von ihnen hätte. Jeder von ihnen durfte sich oft genug anhören, ob sie denn nicht lieber etwas “Normales” machen wollen.

Aber auf seine Bedürfnisse zu hören, heißt eben auch, sich nicht mehr um die Meinung der Öffentlichkeit zu kümmern. Ausscheren, um auf der Abzweigung viel mehr Spaß zu haben als auf der Hauptstraße. Und sich keiner Gesellschaftsschicht, keiner Kaste mehr zugehörig fühlen, sondern nur dem Leben selbst.

Ach, ich bin ja noch die Antwort meiner Titelfrage schuldig geblieben: Ich fühle mich folgender Kaste Mensch zugehörig: freiheitsliebend, querdenkend, gerne mal unbequem, meist fröhlich, mit einem großen Herzen und ungeheurem Hunger aufs Leben. Den Stempel darf mir gerne jemand aufs Hirn drücken.

Wie wichtig ist es für dich, zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht zu gehören? Lohnt sich die Mühe dafür, oder kümmerst du dich lieber darum, dass sich dein Leben stimmig anfühlt? Ich freue mich auf deinen Kommentar!