Kürzlich bin ich über den Kommentar einer lieben Leserin gestolpert, der da lautete: “… auch wenn der Weg, der vor dir liegt, noch nicht klar erkennbar ist (und vielleicht nie sein wird).” Ich gestehe, dass ich kurzzeitig erschrocken bin. Geht das gut, im Leben immer nur auf Sicht zu fahren? Hält ein Mensch auf Dauer so viel Unsicherheit aus?

Einen Moment später hatte ich ein Lächeln auf den Lippen und dachte mir: “Eigentlich eine wunderbare Vorstellung. Ist es nicht das perfekte Leben im Jetzt?”

Und wieder einen Moment später schossen mir Fragen über Fragen durch den Kopf. Fragen, die ich gar nicht auf Anhieb beantworten konnte. Vielleicht hilfst du mir mit deinem Kommentar später, ein wenig Klarheit in der Sache zu bekommen.

Ich frage mich:

  • Wenn schon der Weg nicht auf Anhieb erkennbar ist, brauche ich dann überhaupt Ziele?
  • Warum haben wir eigentlich Ziele?
  • Kann man ziellos leben?
  • Nutzen uns Ziele wirklich oder hindern sie uns?
  • Ist es schlimm, gar kein Ziel vor Augen zu haben, sondern sich auf den Weg zu konzentrieren?
  • Was passiert, wenn man sich dahin treiben lässt, wo es sich richtig anfühlt – dorthin, wo die passenden Begleiter sind?

Das Positive an Zielen

Sie bieten eine gewisse Orientierung. Ziele geben eine Richtung vor und sorgen dafür, dass ich überhaupt loslaufe. Dienen als Motivation, um ins Handeln zu kommen und nicht den ganzen Tag ziel- und sinnlos herumzugammeln (abgesehen davon, dass ziel- und sinnloses Herumgammeln ab und an sehr gut tun kann und zu den schönsten Formen des Müßiggangs gehört).

Das Negative an Zielen

Sie zementieren eine Verbindlichkeit und manchmal hässliche Unausweichlichkeit. Es geht meist um besser, höher, schneller. Krampfhaftes Fokussieren auf ein Ziel erzeugt Druck und führt zu negativen Konsequenzen. Beispiele gefällig?

  • Der Vertriebsmitarbeiter hat keine Chance mehr, die geforderten unrealistischen Umsatzsteigerungen zu erreichen und wird abgestraft.
  • Die Aktiengesellschaft droht ihre Zielvorgaben zu verfehlen und entlässt im Sinn des Shareholder Value Mitarbeiter, um die Zahlen aufzupolieren und den Aktienkurs in die Höhe zu treiben.
  • Das große Lebensziel, unter allen Umständen einmal ein Eigenheim zu haben – ganz egal, wie die finanziellen Voraussetzungen sind -, versklavt Menschen teils auf Jahrzehnte und macht sie auf unsägliche Weise von ihrem Arbeitgeber abhängig. Durch die Kombination “Job weg, Haus weg” sind schon zu viele schlimme Dinge passiert.

Was ich damit sagen will: Ziele können ja schön und gut sein. Aber nur, wenn ich auf dem Weg dorthin auch einmal auf die Bodenbeschaffenheit der Strecke achte. Was mir vor zwei Jahren noch wie eine Fahrt auf der Autobahn vorkam, stellt sich aktuell vielleicht nur noch als ein Kriechen durchs Gestrüpp dar. Dabei hätte es unterwegs Abzweigungen gegeben. Aber auf denen stand ja nicht das einmal festgelegte, unumstößliche Ziel. Also Augen zu und durch.

Ziellos leben ist doch gar nicht so schlimm, oder?

Was würde denn passieren, wenn wir uns viel mehr vom Weg als vom Ziel leiten lassen? Die überraschenden Möglichkeiten des ziellosen Lebens annehmen?

Ich bin der Meinung, dass unser Leben gerade dadurch so wertvoll, einzigartig und wunderbar ist, weil nicht alles planbar ist. Also könnten wir doch lernen, uns öfter mit dem Unausweichlichen zu arrangieren und auf die Wendungen zu reagieren, anstatt stur unser Standardprogramm abzuspulen.

Ein Standardprogramm, das noch dazu sehr oft von Zielen geleitet wird, die gar nicht unsere sind, sondern durch Erziehung oder sonstige gesellschaftliche Konventionen mehr oder weniger übergestülpt wurden.

Ich weiß: Echte eigene Ziele oder besser gesagt Wertvorstellungen zu definieren und zugleich Raum für spontane Zieländerungen zu lassen, kostet Mut und Überwindung. Unsicherheit inklusive.

Ich will nicht an den spannendsten Abzweigungen vorbeirennen

Mein Entschluss lautet: Ich kann, will und werde mich nicht mehr auf ein großes Ziel festlegen. Dazu ist das Leben viel zu spannend, zu überraschend, zu vielfältig an seinen Möglichkeiten. Wenn ich mich auf ein Ziel zu sehr fokussiere, renne ich vielleicht an den spannendsten Abzweigungen vorbei.

Ich will zu jeder Sekunde offen sein für neue Wegbegleiter, interessante Umleitungen und spannende neue Landschaften. Deshalb schaue ich ganz bewusst auf den Weg, nicht auf das Ziel.

Damit ich nicht ganz planlos umherirre, lasse ich mich von folgenden Wegweisern leiten:

  • Neugierde und Lust aufs Leben
  • Mut
  • Vertrauen in das, was kommt
  • Vertrauen in meine Fähigkeiten, für mich selbst zu sorgen
  • Naturnah leben
  • Zeit für die wesentlichen Dinge und Schönheiten des Lebens
  • Den Menschen als Mutmacher dienen und meine Geschichten erzählen

Ich denke, damit lässt sich ein zielloses Leben ganz gut aushalten. Die Tatsache, dass ich noch so wenig von dem vor mir liegenden Weg weiß, gefällt mir mit jedem Moment besser …

Hast du große Ziele und findest meinen Text deshalb ziemlich verstörend? Oder bist du eher jemand, der das Leben und seine eigene Unvollkommenheit annimmt und sich lieber auf das Jetzt konzentriert? Ich freue mich sehr auf deinen Kommentar und bin gespannt, was du auf meine Fragen antwortest.