Ziel in Sicht Ist heute der Tag für Wehmut gekommen? Genau vier Monate bin ich on the road. Am Ende werden es rund fünfeinhalb sein. Das heißt, meine Europatour mit Dr. D biegt so gaaanz langsam auf die Zielgerade ein. Jetzt könnte ich lamentieren und sagen: „Oh Mann, bald ist die verrückteste Zeit meines Lebens vorbei.“ Ich bin aber überzeugt davon, dass es gut so ist. Für mich muss alles im Leben einen Anfang und ein Ende haben. Genauso wenig, wie ich mir ein ewiges Leben nach dem Tod vorstellen kann und will (meine Ausführungen zum Thema „Glauben“ findet ihr hier), wäre es für mich erstrebenswert, ohne eine zeitliche Begrenzung unterwegs zu sein.

Denn das hieße zugleich, nicht zu wissen, wann ich die vielen lieb gewonnenen Menschen in meinem Umfeld endlich einmal wiedersehen kann. Klar kannst du es während so einer Tour arrangieren, dass du den ein oder anderen triffst. Das habe ich auch getan. Die Vertrautheit nach all den vielen neuen Dingen, die es auf der Tour zu entdecken gab, hat jedes Mal sehr gut getan. Aber die Mehrzahl der Menschen, die ich sehr gerne mag, habe ich eben schon vier Monate nicht mehr gesehen. Und deshalb ist es gut, nach Hause zu kommen und von dort aus in Ruhe viele Treffs zu arrangieren.

Aber nicht falsch verstehen: Mir geht es prächtig on the road. Ich spüre keine Abnutzungserscheinungen und werde die letzten rund sechs Wochen genauso genießen wie die Zeit bisher. Ich habe noch lange nicht genug von neuen Ländern, Menschen, Sitten, Speisen, Stränden und was auch immer. Gestern sind wir durch DEN Pilgerort Santiago de Compostela gefahren (haben mangels geeignetem Parkplatz aber nichts von der Stadt gesehen). Da kam mir der Gedanke, dass meine Europatour für mich im übertragenen Sinn auch eine Pilgerreise ist. Warum? Das erkläre ich gerne:

#1 Der Weg ist beim Pilgern das Ziel

Das Schöne beim Unterwegssein ist, dass du nie weißt, was als nächstes passieren wird. Überraschungen gibt es zuhause zwar auch, trotzdem ist das Leben dort eher vorhersehbar. Das aufzusaugen, was passiert, Neues auf sich wirken zu lassen, sich woanders zurechtzufinden, Herausforderungen anzunehmen, Rückschläge wegzustecken: Das sind nur fünf Dinge von vielen, die den Weg des Pilgernden ausmachen. Das alles bringt dich schon weiter, ohne dass du dir irgendeinen Stempel in einen Pilgerpass drücken lässt.

#2 Trotzdem ist es wunderbar, beim Pilgern das Ziel zu erreichen

Pilgern wäre ja nicht Pilgern, wenn es kein definiertes Ziel gäbe. Ein solches ist wichtig für die Motivation und befreit die Unternehmung von einer gewissen Beliebigkeit. Bei mir ist es weniger das örtliche Ziel. Natürlich werde ich stolz und zufrieden sein, wenn ich nach Kempten zurückkehren und zum ersten Mal nach einem halben Jahr wieder im eigenen Bett schlafen werde. Doch das eigentliche Ziel habe ich schon lange erreicht: Den Mut zum Aufbruch; den Mut, drei Monate allein zu reisen; den Mut, mein Seelenleben öffentlich zu machen; den Mut, trotz aller Unsicherheit der Zukunft frohgemut ins Auge zu blicken.

#3 Pilgern ist anstrengend

Okay, ich habe keine Blasen an den Füßen (außer von den neuen Flip Flops) und musste nicht für völlig überzogene Preise in schäbigen Herbergen am Wegesrand nach Santiago de Compostela nächtigen. Außerdem konnte ich mich bei schlechtem Wetter immerhin in meinen Bus zurückziehen und musste nicht klatschnass 20 Kilometer laufen. Trotzdem  war und ist meine Tour auch anstrengend. Das spüre ich gerade heute wieder, nachdem wir in den letzten drei Tagen viele Kilometer bei ordentlicher Hitze gemacht haben. Das ist ein unvermeidlicher Teil einer langen Tour. Dazu kommt die mentale Herausforderung, sich alle paar Tage (oder teils jeden Tag) auf neue Orte, neue Menschen, immer wieder neue Länder und neue Sprachen einzustellen. Das alles ist sehr spannend und macht mir richtig Freude. Aber es kostet doch auch einiges an Kraft.

#4 Pilgern lehrt dich Dinge übers Leben und über dich selbst

Ich bin nicht Hape Kerkeling. Und ich habe meine Tour auch nicht angetreten, damit es eine „Reise zu mir selbst“ wird (dieser Ausdruck wird eh arg überstrapaziert). Ich wusste schon vor der Abfahrt genug von mir, insofern musste ich mich nicht erst bei der Reise finden. Trotzdem ist es unvermeidbar, dass dir unglaublich viele Dinge durch den Kopf schießen, wenn du lange allein unterwegs bist. Gerade bei meinen langen Fahrten hätte ich manchmal gerne einen Hirn-Schreiber gehabt, der alle meine Gedanken aufzeichnet. Losgelöst von daheim und dem Alltag rücken viele Dinge in ein anderes Licht, verschieben sich Prioritäten. Zu sehen, wie diese Lehren des Lebens auch daheim anwendbar sind, wie ich mich in Zukunft von ihnen leiten lassen werde, ist für mich der spannendste Teil meiner (Pilger-)Reise.