Wen siehst du im Spiegel

Heute kommt mein großes Geständnis: Ich war einmal ein toller Schauspieler. Richtig gut in meiner Rolle. Und das ganz ohne Schauspielschule.

Für die Rolle meines Lebens musste ich auch gar nicht geschminkt werden. Musste keinen Text lernen. Musste mir nur Jeans, Hemd und Halbschuhe anziehen und ins Büro marschieren.

Dort wurde jeden Tag der Film “Mischa – der Unzerstörbare und immer Lustige” weitergedreht. Fast 12 Jahre lang. Wie in einer Soap.

Mein Repertoire: keine Schwächen zeigen, niemanden von meinen psychischen Problemen erzählen (außer zu einem Zeitpunkt, an dem es wirklich nicht mehr zu übersehen war) und selbst im todtraurigen Zustand noch irgendwelche Witze raushauen.

Ich war richtig gut

Oh Mann, ich war gut. So gut, dass ich mir selbst eingebildet habe, dass ich das wirklich bin. So gut, dass die Ex-Kollegen sagen, sie hätten mich erst jetzt über die Berichte auf meinem Blog so richtig kennengelernt.

In meiner Selbstwahrnehmung war ich der authentischste Mensch der Welt – zumindest verglichen mit allen anderen, die ich kenne. Und dann sagt mir mein Therapeut: “Authentizität ist ihr großes Problem.”

Ich? Nicht authentisch? Eine Unverschämtheit! Das habe ich ihm auch gesagt. Und dann angefangen, darüber nachzudenken.

Wen siehst du im Spiegel? Keine Ahnung!

Darüber, dass ich die Frage: “Wen siehst du im Spiegel?” gar nicht mehr so klar beantworten kann. Darüber, dass ich nicht ansatzweise so stark bin, wie ich vorgespielt habe. Darüber, dass mein Versteckspiel in Bezug auf meine Krankheit mir wirklich geschadet hat.

So richtig klar wurde das bei einer Gruppenübung. Jeder musste sich nacheinander hinter seinen Stuhl stellen und über sich in der dritten Person erzählen, welche Rolle diese im Alltag so spielt. Und sich danach wieder auf den Stuhl setzen und sagen, wer man wirklich ist und was man wirklich fühlt.

In dem Moment ist alles aus mir herausgebrochen. Ich war richtig erschüttert. Es war, wie wenn mir die Last eines ganzen Jahrzehnts von den Schultern genommen würde.

Und plötzlich war ich meine Rolle los

Die Konsequenz: Ich war meine Rolle los. Endlich. Ich musste nicht mehr schauspielern. (Annika hat kürzlich in ihrem Gastartikel über eine sehr ähnliche Erfahrung berichtet).

Mich selbst und die anderen nicht mehr anlügen zu müssen, war die große Befreiung – und ist es heute immer noch.

Warum? Weil ich nur dann authentisch sein kann, wenn mein Gegenüber meine ganze Geschichte kennt. Und nicht nur ein Kapitel, das mich im hellen Glanz strahlen lässt.

Der Sunnyboy darf auch Angst haben

Zu mir gehören eben Gefühle, Ängste, Trauer, Verletzlichkeit – und nicht nur die schöne heile Welt des Sunnyboys.

Manchmal frage ich mich, ob ich meine Mitmenschen überfordere, wenn ich so schnell so viel von mir preisgebe. Ich mache das schon automatisch, weil ich gar nicht mehr anders kann. Weil ich leben und nicht schauspielern will.

Die interessante Erfahrung: Bis auf vereinzelte Ausnahmen sind meine Gesprächspartner unheimlich froh, dass ich mich so öffne. Zugleich scheint es wie ein Signal für mein Gegenüber zu sein, auch eigene Schwächen zuzugeben.

Verdammt oft habe ich deshalb erlebt, dass Gespräche, die vor zwei Jahren noch ein klassischer Smalltalk gewesen wären, unglaublich schnell an Intensität und Tiefe zugenommen haben.

“Das hätte ich bei dir nie gedacht”

Das tut richtig gut. Jeden Tag bin ich wieder erstaunt, wie viele Menschen sich mir öffnen, nur weil ich mich geöffnet habe. Und ich dann aufgrund der Dinge, die ich erfahre, plötzlich den Satz sage, den ich selbst von anderen so oft zu hören bekommen habe: “Das hätte ich ja bei dir nie gedacht.”

So wird mir mehr und mehr klar, dass die meisten Menschen in unserer “Alles-klar-alles-super”-Gesellschaft nur noch im versteckten Kämmerlein darüber reden, was sie wirklich bewegt – wenn überhaupt.

Dass die Angst, wir könnten als schwach und nicht leistungsfähig genug gelten, uns alle hemmt, Gefühle zu zeigen und in die Schauspielerei zwingt. Das ist dem Einzelnen auch gar nicht vorzuwerfen, schließlich will das Wirtschaftssystem die Starken und Unbesiegbaren.

Das Fazit

Ich kann mir ein Leben ohne meine neue Offenheit nicht mehr vorstellen. Wenn ich morgens in den Spiegel schaue, sehe ich keinen Schauspieler mehr. Außer man zählt das Faxen machen und Grimassen schneiden dazu. Dann bin ich noch Schauspieler. Aber in einer Rolle, die mir endlich gut gefällt und zu mir passt.

Wie ist es bei dir? Wen siehst du im Spiegel? Hast du dir auch schon öfter gedacht, dass du gewisse Dinge mal anderen Menschen erzählen müsstest, den Gedanken aber wieder verworfen, weil du keine Schwäche zeigen willst? Ich freue mich auf deinen Kommentar!

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