Oh ha, bei der Überschrift musste ich mir gerade die Augen reiben. Habe das wirklich ich geschrieben? Werden sich jetzt auch ein paar Menschen fragen, die mich schon länger kennen (und alle, die diesen Artikel zur WM vor 2 Jahren gelesen haben).

Die Antwort lautet: Ja! Und ich meine das mit vollster Überzeugung.

Mit derselben Überzeugung dachte ich früher, dass meine Stimmung von den Ergebnissen meiner favorisierten Sportmannschaften abhängt. Während EM und WM also von denen der deutschen Mannschaft.

Dass es super wichtig ist, ja kein Spiel zu verpassen, um alles analysieren und schlau mitreden zu können. Als Sportredakteur durfte ich das sogar als meine berufliche Pflicht ansehen, auch wenn meine Tätigkeit mit den großen Meisterschaften nun gar nichts zu tun hatte.

Kann das alles wahr sein?

Im Rückblick auf all die Jahre frage ich mich: Ist es wirklich wahr, dass ICH mich beschissen gefühlt habe, weil EINE SPORTMANNSCHAFT (also in der Regel ein Haufen mehr oder weniger hoch bezahlter Profis, mit denen ich überhaupt nichts zu tun habe) verloren hat, ausgeschieden oder abgestiegen ist?

Und dass ICH mir ganz groß vorkam und gefeiert habe, als gäbe es kein Morgen mehr, weil EINE SPORTMANNSCHAFT ein Spiel gewonnen hat, weitergekommen oder aufgestiegen ist?

Mein Name: Professor Dr. Dr. Passivsport

Ist es wahr, dass ich im Hochsommer bei geilstem Wetter über Wochen nicht von der Glotze weggekommen bin? Dass ich Urlaubsorte danach ausgesucht habe, ob in der Ferienwohnung ein Fernseher steht?

Ist es wahr, dass ich im Winter lieber im Akkord Skispringern, Biathleten, Skifahrern, Eisschnellläufern, Bobfahrern, Rodlern und wem sonst noch alles komplette Wochenenden lang die Daumen auf dem Sofa gedrückt habe, anstatt meinen Hintern endlich selbst nach draußen zu bekommen?

Ja, es ist wahr. Als Professor Dr. Dr. Passivsport kam ich mir ziemlich wichtig vor. Gut, immerhin hat mir diese Passion den ersten Angestelltenjob meines Lebens gebracht (und hoffentlich auch den letzten).

Sport, den andere machen, hat keine Bedeutung für dein Leben

Ich musste erst so richtig tief durch die Scheiße des Lebens waten, um aufzuwachen und zu kapieren, dass ganz andere Dinge zählen. Sport ist nicht wichtig.

Stopp! Sport ist natürlich wichtig. Und zwar der, den du selbst treibst. Der hat jegliche Aufmerksamkeit, Emotion und Energie verdient.

Aber Sport, den andere machen, ist eben Sport, den andere machen. Punkt. Keine weitere Bedeutung für dein Leben. Sich dauernd mit den Erfolgen oder Misserfolgen von Sportlern (gilt übrigens auch für Schauspieler, Royals und Volksmusikstars) zu beschäftigen, ist vergeudete Lebenszeit.

Wie wäre es denn, mit derselben Energie, derselben Begeisterung, derselben Wichtigkeit, den selben Emotionen und dem selben Zeitaufwand den eigenen Lebensträumen nachzugehen?

Deshalb behaupte ich heute einfach mal:

Es ist scheißegal, ob Deutschland Europameister wird.

Ich bin nicht zum Fußball- oder Deutschland-Hasser geworden. Im Gegenteil. Die Spiele schaue ich mir trotzdem an, wenn es zeitlich geht. Ich fiebere mit Freunden zusammen mit, juble über deutsche Tore und freue mich über jeden Sieg.

Doch etwas ist ganz anders als früher: Ich würde genauso lachen, wenn Deutschland ausscheidet. Weil das alles nur ein Spiel ist, von dem am Ende eh nur die 23 Männer profitieren, die ihre Prämien kassieren, plus ein paar Trainer, Betreuer und alte Ärzte mit langen Haaren.

Und weil dieses Spiel für den Rest des Landes, seien wir mal ganz ehrlich, nicht einmal im Ansatz die Bedeutung hat, die dem Geschehen beigemessen wird. Aber wenn wir von früh bis spät mit Fußball, Fußball, Fußball auf allen Kanälen zugedröhnt werden, glauben wir tatsächlich irgendwann, dass hier was Wichtiges passiert.

Tranquilizer fürs Volk

Dabei ist es nur die perfekte Ablenkung. Das Volk bekommt 4 Wochen lang eine Auszeit von den Dingen, die uns sonst das ganze Jahr über Angst machen sollen. Darf mal einen Monat lang seine Schmerzen in der Sklaverei der Turbo-Stress-Leistungsgesellschaft vergessen.

Wenn dann Deutschland endlich wieder Europameister wird, haben wir uns alle lieb, platzen vor Selbstvertrauen, die Stimmung im Land steigt ins Unermessliche, eine nie gesehene Welle von Empathie und Liebe macht sich breit. Nicht.

Warum? Weil sich außer einem ausgeprägten Kater am nächsten Morgen das Leben eines Fußballfans bzw. das Leben in einem Europameister-Land nullkommanull ändert.

EM – die Zeit der Ausreden

Stattdessen sind diese 4 Wochen eine Zeit des Stillstands. Wer ununterbrochen Fußball schaut, muss sich keine Gedanken um sein Leben machen. Man kann sich doch nur auf eine Sache konzentrieren.

So eine EM und WM ist noch dazu die perfekte Zeit der Ausreden. Ernährung – völlig egal.  Alkoholkonsum – Hauptsache viel.  Bewegung – bitte nur im Bermuda-Dreieck Sofa-Kühlschrank–WC. Soziale Kontakte mit Nicht-Fußballfreaks – ausgeschlossen.

Das Leben findet draußen statt

Schreibe ich eigentlich nur so böse Sachen über die EM, weil ich bei drei Abendspielen, die ich schauen wollte, jeweils schon in der ersten Halbzeit eingeschlafen bin? Weil ich Werbung mit Bezug zur EM durch die Bank lächerlich finde? Oder, weil ich endlich weiß, dass sich das Leben weit jenseits des Fernsehers und der Massenhysterie abspielt?

Die entscheidenden Spiele der Gruppen E und F am vergangenen Mittwoch hätte ich mir früher nur unter Folterandrohung entgehen lassen. Diesmal war ich zeitgleich mit Freunden an einem Weiher und hatte richtig viel Spaß beim Baden, Grillen, Geschichten erzählen und unter Sternenhimmel bei Vollmond draußen schlafen.

SO fühlt sich für mich der Sommer an. Ich tue mir konsequent Gutes und bin nicht auf Sportergebnisse angewiesen, damit es mir gut geht.

Yoga und Fußball – geht das zusammen?

Noch eine Anekdote zum Schluss: Vor zwei Monaten habe ich – ohne jeden Hintergedanken an die EM – ein Yoga-Retreat in Italien gebucht, das ab kommenden Samstag eine Woche lang dauert. Plötzlich wurde mir klar: Falls Deutschland ins Viertelfinale oder Halbfinale kommt, kann ich die Spiele nicht sehen, weil wir zum selben Zeitpunkt meditieren oder andere entspannende Dinge tun.

Ein kurzer Anflug einer Panikattacke, dann herzliches Lachen über meine alten Muster und die Erkenntnis: Wenn ich an einem wunderschönen Ort mit großartigen Menschen einer wunderbaren Sache nachgehe, dann kann kein Fußballspiel der Welt wichtiger sein. Und zum Autokorso nach dem Titelgewinn bin ich rechtzeitig zurück.

Wie ist es bei dir? Bist du 100-Prozent-Fan, Mitschauer oder geht dir Fußball am Allerwertesten vorbei? Ist der vierwöchige Zirkus während der EM gerechtfertigt und wissen wir nichts Besseres mit unserer Zeit anzufangen? Ich freue mich auf deinen Kommentar!