Besteht für dich Spontanität darin, dass du das nächste Treffen mit deiner besten Freundin sechs Wochen vorher auf die Minute genau fixierst?

Bist du vor einem Urlaub erst dann zufrieden, wenn du jede Unterkunft auf deiner Tour schon Monate vorher fix gebucht hast, schon genau weißt, was du ansehen und wo du essen wirst? (Dass jede einzelne Verkehrsverbindung, die du nutzen wirst, schon ausgedruckt in deiner dicken Mappe liegt, ist doch eh selbstverständlich.)

Rechnest du jetzt schon hoch, wie viel Rente du einmal bekommen wirst? (Klar, du bist 32, da muss man doch wissen, was einen in 35 Jahren erwartet!)

Entschuldigst du dich bei deinen Gästen, weil bei dem sensationellen Drei-Gänge-Menü, das du gerade gezaubert hast, das Dessert einen winzigen Schönheitsfehler hat – obwohl alle in den höchsten Tönen davon schwärmen?

Jetzt Butter bei die Fische: Wie oft hast du gerade genickt oder vor dich hingemurmelt: “Ja klar!”? Okay, mindestens einmal oder mehr. Dann muss ich dir leider eine niederschmetternde Diagnose stellen:

Du bist ein Sicherheitsfanatiker, willst am liebsten alles jederzeit unter Kontrolle haben, planst und planst und planst, damit dir nur nichts Unvorhergesehenes passieren kann und Perfektionismus ist dein zweiter Vorname. Herzliches Beileid!

Denn dein langweiliges, vorhersehbares Leben ganz tief in deine Komfortzone eingekuschelt birgt die größte Gefahr für dich, die du dir vorstellen kannst: Du bist für eine Angsterkrankung so empfänglich wie eine Apfelblüte im Frühjahr für die Bestäubung.

Das muss nicht gleich in eine generalisierte Angststörung münden wie in meinem Fall damals mit Panikattacken und der klassischen Angst vor der Angst. Vielleicht entwickeln sich ja nur ein, zwei muntere Phobien daraus, die dich davon abhalten, Dinge zu tun, die du eigentlich gerne machen würdest. Ängste, die dich von einem Leben in all der gewünschten Fülle abhalten, dich immer wieder einbremsen.

Willst du wirklich in die Sicherheits-Verwahrung?

Du denkst jetzt: “Der soll nicht so einen Quatsch schreiben. Sicherheit und Kontrolle tun meinem Leben gut.” Nein, tun sie nicht.

Denn Sicherheit und Angst schließen sich nicht etwa aus – sie sind unzertrennliche Freunde. Je mehr du dein Leben im Griff haben willst, umso eher wirst du in den Würgegriff genommen und in dein inneres Gefängnis geworfen. Im wahrsten Sinn des Wortes eine Sicherheits-Verwahrung.

Woher ich das weiß? Weil ich es selbst schmerzhaft erfahren musste. Weil ich viel zu lange darunter gelitten habe. Weil ich den Zusammenhang zwischen Sicherheit und Angst einfach nicht kapiert habe.

Erst nach meiner Flucht aus dem Gefängnis sind mir die Zusammenhänge klar geworden. Dass ich mit meinem ständigen Kontrollwahn die Angst noch so richtig befeuert habe. Mir gar keinen Spielraum für Unsicherheit gelassen habe und damit keine Möglichkeit hatte, das Leben auf mich zukommen zu lassen und an überraschend gemeisterten Situationen zu wachsen.

Wenn die Angst die Kontrolle übernimmt – 5 Beispiele

Willst du wissen, was ein Sicherheitsfanatiker, der immer mehr von seiner Angst getrieben wird, im täglichen Leben so anstellt, um gefühlt alles unter Kontrolle zu haben? Bitteschön – das Beste aus meinem früheren Leben:

  • Kinositze ausschließlich außen und so weit hinten bzw. so nah an der Tür wie möglich wählen. (Die perfekte Fluchtmöglichkeit ist natürlich auch im Theater, dem Konzertsaal, bei Vorträgen, Pressekonferenzen u.ä. zu gewährleisten.)
  • Im Zug, der aus zwei Triebwagen besteht, die nicht durch eine Tür verbunden sind, natürlich immer im vorderen Teil beim Zugführer Platz nehmen. Bei plötzlich eintretenden Ohnmachts- oder Herzanfällen bekommt der Fahrer das wenigstens mit und kann die Rettung einleiten.
  • Auf keinen Fall Einladungen oder Termine in Gebäuden annehmen, die höher als 10 Stockwerke sind. Nur Verrückte lassen sich in einen Fahrstuhl zwängen. Alles bis 10 Stockwerke (besser 5) schaffen die eigenen Füße.
  • Auf keinen Fall so weit hinausschwimmen, dass man nicht mehr stehen kann. Im Freibad immer eine auffällige neonfarbene Bademütze tragen, damit dich der Bademeister keine Sekunde aus den Augen verliert (okay, das Letztere war jetzt ein Kalauer, das habe ich nicht wirklich gemacht).
  • Keine sportlichen Aktivitäten ohne Pulsmesser. Sollte dieser einmal verrutscht sein und die Uhr einen Puls von 0 anzeigen, sofort manuell prüfen, ob das Herz wirklich noch schlägt oder man schon tot ist.

Klingt lustig? Ach, so im Nachhinein kann ich mir ein Schmunzeln darüber auch nicht verkneifen. Aber wer selbst in solchen Zwängen steckt, wer es zugelassen hat, dass sich aus dem Sicherheitsverlangen solche Ängste entwickeln können, ist nichts anderes als eine ganz arme Sau.

Ich habe von Angstpatienten gelesen, die täglich zum Arzt gehen, um sich bestätigen zu lassen, dass sie keine neue lebensbedrohliche Krankheit haben. Andere ziehen sogar in die direkte Nachbarschaft eines Krankenhauses, um im Fall des Falles (gefühlt ist es ein Herzinfarkt, in der Realität “nur” eine Panikattacke) schnell versorgt zu werden.

Ganz so schlimm war es bei mir nie. Aber meine langjährigen Verhaltensweisen haben sich bei mir so sehr eingeprägt, dass ich noch immer aufpassen muss, nicht in die alten Muster zurückzufallen. Obwohl ich gelernt habe, Unsicherheit anzunehmen, kaum mehr plane, über meinen früheren Kontrollwahn lachen kann und definitiv keine perfektionistischen Tendenzen mehr zeige, meldet sich ab und an mal eine Stimme, die sagt: “Wäre es jetzt nicht sicherer, wenn du …?

Dann liegt es mir an, ganz laut “Nein!” zu sagen und mich daran zu erinnern, wohin mich mein Sicherheitsdenken gebracht hat. In eine Sackgasse.

Willst du da hin? Ich hoffe nicht.

P.S.: Wie ich das Loslassen gelernt habe (mit vielen Beispielen) und wie dir das auch gelingen kann, beschreibe ich nächsten Sonntag.

Und, habe ich dich ertappt? Gehst du auch lieber bei allen Dingen auf Nummer sicher weil du denkst, dass dir das ein gutes Gefühl gibt? Oder zählst du zur Sorte Abenteurer, dem Sicherheit, Kontrolle und zu viel Planung schon immer ein Dorn im Auge waren? Ich freue mich auf deinen Kommentar!

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