„Oh ist das peinlich!“ – „Hast du den gesehen? Oh, ist der peinlich!“ – „Schau mal, wie die rumläuft. Oh, ist die peinlich!“ Das hast du noch nie gesagt? Glaub‘ ich dir nicht.

Schließlich wachsen wir doch in einer Gesellschaft auf, in der nichts so ungern gesehen wird wie das Ausscheren aus der Masse. Schwimmt jemand nicht mit im Strom, hat er sehr gute Chancen, nach unseren gesellschaftlichen Normen als peinlich zu gelten.

Das kann seine Kleidung betreffen, seine Frisur, sein Haus, seine politische Gesinnung, sein Lachen, sein Tanzen, ja so ziemlich alles. Aber wenn wir ständig Angst davor haben, dass wir etwas Peinliches tun, dann schränken wir unsere Freiheit völlig unnötig ein. Deshalb mein Aufruf:

Lasst uns peinlich sein!

Okay, du willst wissen, wie ich „peinlich“ definiere. Also das „peinlich“, über das ich schreibe, ist wie oben beschrieben. Du tust alles dafür, nur nicht aufzufallen – anderenfalls ist es dir peinlich.

Tanzen, wenn sonst noch niemand auf der Tanzfläche ist? Peinlich! Die anderen könnten ja über den eigenen Tanzstil lästern. Laut mitsingen, wenn irgendwo ein tolles Lied läuft oder selbst anfangen zu singen, wenn einem gerade ein toller Song in den Sinn kommt? Peinlich! Beim Fußballschauen in der Kneipe mal was laut in den Raum zu schreien? Peinlich! Die neon-grüne Hose anziehen? Peinlich!

Nicht falsch verstehen: Es geht nicht darum, auf Teufel komm raus aufzufallen. Die Zeitgenossen, die so durch die Welt poltern, ohne zu merken, dass es links und rechts des Weges auch noch andere Menschen gibt, sind mir auch zuwider.

Die im Restaurant über zehn Tische hinweg der Bedienung nachschreien, weil sie glauben, dass sie die wichtigsten sind. Die immer einen Ticken zu laut, zu protzig, zu selbstverliebt sind.

Wen interessiert die Meinung deiner Nachbarn?

Mir geht es darum, dass wir uns ständig selbst in den Möglichkeiten der Lebensfreude beschränken, weil wir dieses Wort „peinlich“ im Hinterkopf haben.

Nur nicht auffallen wollen aus Angst vor der Reaktion der anderen. „Was werden nur die Nachbarn sagen?“ Ehrlich gesagt: Wen interessiert’s? Es reicht doch, dass schon genug Leute ihr Leben kaputt gemacht haben, weil sie ihr Augenmerk weniger auf sich als auf die Ansichten ihrer Nachbarn gerichtet hatten.

Deine Nachbarn könnten es peinlich finden, wenn du im Garten Qi-Gong machst? Ja und? Dass du in der Unterhose auf dem Balkon stehst? Ja und?

Wenn sie nicht mehr Interessen in ihrem Leben haben, als über dich und andere Nachbarn zu lästern, können das doch auch nicht die Menschen sein, auf deren Meinung du irgendeinen Wert legst oder dich danach richtest.

Du wirst sichtbar

Was ist der Vorteil daran, peinlich zu sein, fragst du? Ganz einfach: Du wirst sichtbar. Kennst du den Film „Eine Insel namens Udo“? Da wird der durch und durch unscheinbare Kaufhausdetektiv Udo erst dann sichtbar, als er sich mit vollen Zügen in das Leben und die Liebe stürzt – einige peinliche Momente inklusive.

Und so kann es dir auch gehen. Du kannst mit 50 anderen Leuten um die leere Tanzfläche herumstehen und warten, dass endlich jemand anderes zu tanzen beginnt. Oder du gehst selbst als Erster drauf, schließlich läuft gerade dein Lieblingslied. Du wirst dich den ganzen Abend ärgern, wenn du es nichts tust.

Aber wenn du dir den Ruck gibst, sind alle Augen auf dich gerichtet. Genieße es – du bist sichtbar! Du tust es für dich und dein gutes Lebensgefühl.

Die Yoga-Tuschler

Ich habe über all die Jahre zur Gruppe der Abwarter, Zuschauer, Nicht-auffallen-Woller gezählt. Und deshalb darf ich dir mit Freude mitteilen, dass der andere Weg besser ist. Einen sich selbst und das Leben besser spüren lässt.

Beispiele gefällig? Was meinst du, wie oft die Leute kichernd vorbeilaufen oder irgendwas tuscheln, wenn ich beim Yoga oder beim Meditieren auf dem Campingplatz, dem Bootssteg, am Strand oder im Wald öffentlich sichtbar bin? Und was meinst du, wie egal mir das ist?

Früher hätte ich das nicht für viel Geld gemacht. Aber soll ich immer kilometerweise fahren, bis mir keiner mehr zusehen kann? Ich tue es für mich, es tut mir gut, basta.

Fünfminütiger Ausdruckstanz in der Fox-Disco

Zum Thema Tanzen habe ich auch noch eine Anekdote. Beim Besuch von Freunden in Ostfriesland sind wir in einem abgefahrenen Disco-Fox-Schuppen gelandet (nicht immer sind die Tipps, die man bekommt, Gold wert).

Zuerst waren wir aufgrund des Interieurs geschockt und aufgrund der anderen Gäste etwas befremdet, weil wir uns vorkamen wie Kindergartenkinder auf einem 80. Geburtstag.

Dann haben wir aufgrund der ganzen Szenerie angefangen zu lachen, mehrere Minuten lang und so laut, dass alle auf uns geschaut haben. Und dann haben wir gelost, wer fünf Minuten lang allein auf die leer gefegte Tanzfläche muss. Richtig, ich.

Noch fernab von alkoholischer Enthemmtheit habe ich mir einfach gedacht: Nutz die Chance, dieses Publikum bekommst du kein zweites Mal mehr. Und habe einen fünfminütigen Ausdruckstanz hingelegt, sodass alle Augen in dem Club auf mich gerichtet waren, wie mir meine beiden Begleiter hinterher erzählt haben.

Früher wäre das für mich maximal peinlich gewesen, dort habe ich es genossen (und hinterher sogar Komplimente bekommen).

Das Fazit

Lass dich in deinem Leben bitte nicht von dem einschränken, was du glaubst, dass andere Menschen über dich sagen könnten. Aus ihnen spricht meist nur der Neid, weil sie selbst nicht sichtbar werden wollen und es ihnen deshalb unheimlich ist, wenn jemand aus der Masse ausschert.

Also zeig dich, mach dich sichtbar, hörbar, erlebbar. Wirklich peinlich sind nur die, die sich nie trauen, das zu tun, was sie eigentlich gerade wollen – nur aus Angst vor den Reaktionen anderer.

Peinlich sein tut gut und macht unheimlich lebendig. Probiere es aus!

Bist du auch schon einmal über deinen Schatten gesprungen und hast dich einer Situation ausgesetzt, die in deinem internen Wertesystem als „peinlich“ verankert war? Falls ja, würde ich mich über einen Kommentar freuen. Ich selbst habe durchaus auch noch weitere Beispiele auf Lager …