still

Heute fordere ich dich zum Selbsttest heraus: Kannst du still sein? Nichts tun? Jegliche Ablenkung ausschalten? Mit niemandem reden? Einfach nur dasitzen, schauen – und sonst nichts? Für 5 Minuten? Oder 15? Gar eine Stunde? Oder einen ganzen Tag?

Mein persönlicher Rekord liegt bei rund zwei Stunden. Aber es geht hier nicht um eine Rekordjagd, sondern um eine der besten Methoden, zu sich selbst zu finden und endlich zur Ruhe zu kommen. Mein Appell: Sei endlich still! Warum das so ist, erkläre ich dir hier:

#1 Du kannst vor dir nicht mehr davonlaufen

Mal angenommen, du schleppst einen Berg voller Sorgen mit dir herum. Ungelöste Konflikte, Probleme am Arbeitsplatz, psychische Probleme. Ich hatte zum Beispiel die ganze Palette davon zu bieten. Und was habe ich gemacht? Genau! Die maximale Ablenkung gesucht.

Durch sehr viel arbeiten, sich nach dem Job noch ehrenamtlich engagieren und viel Fernsehschauen geht die Zeit schon rum. Bin ich dadurch einen Schritt weiter gekommen? Natürlich nicht.

Ich konnte und wollte mich den Problemen nicht konsequent genug stellen und habe versucht, ihnen davonzulaufen. Dann hat es irgendwann bumm gemacht, und ich wurde ausgeknockt. Erst dann, als ich zwangsweise zur Ruhe gekommen bin, habe ich festgestellt:

#2 Du siehst plötzlich glasklar, was alles schiefläuft

Eine (freiwillige) Therapiemethode, die jedem in der Panorama Fachklinik in Scheidegg empfohlen wird: Einen ganzen Tag lang (oder besser noch zwei) aus dem Fenster zu schauen. Kein Fernsehen, kein Telefon, kein Radio, keine Zeitung, kein Buch, nichts.

Und abzuwarten, was passiert. Ich weiß von meinen Mitpatienten, dass nur wenige es ausprobiert haben. Das Ganze war ihnen suspekt, sie haben keinen Sinn dahinter gesehen, und zudem gehört ja einfach nur nichts Tun nicht gerade zu den Merkmalen unserer Leistungsgesellschaft – ist also den meisten gar nicht bekannt.

Ich habe es damals probiert, immerhin zwei Stunden gemeistert und unglaubliche Erfahrungen gemacht. In dem Moment, wenn du keinerlei Ablenkung mehr hast und ganz bei dir bist, fängt ein Film an zu rattern. Und zwar der Film deines Lebens. Du siehst zu und stellst als neutraler Beobachter ziemlich schnell fest, wo deine größten Baustellen sind.

#3 Du bekommst Ideen, wie du deine Probleme lösen kannst (musst)

Und noch viel wichtiger: Während du solange still bist und nur dasitzt, wird dir bei vielen Dingen klar, was du zu tun hast. Mit Sicherheit sind das nicht die einfachen Lösungen. Denn die hättest du ja schon lange ausprobiert.

Nein, es sind bestimmt schmerzhafte, anstrengende Dinge dabei. Aber immerhin weißt du jetzt endlich, wie du überhaupt vorankommen kannst.

In meinem Fall war es so: Der Spielfilm hat gezeigt, dass ich in meinem Job kreuzunglücklich bin, im ständigen Wechsel zwischen zeitlicher Überforderung und geistiger Unterforderung.

Das hatte ich bis zu dem Zeitpunkt immer verdrängt und mir Argumente gesucht, weshalb der Job eigentlich noch okay ist. Die Konsequenz: Ein halbes Jahr später habe ich gekündigt.

Oder die Sache mit meinem Vater: Wir hatten über 10 Jahre keinen Kontakt mehr. Ich hatte eine Stinkwut auf ihn. Aber in dem Moment war klar, dass ich noch einmal mit ihm reden muss, weil es mir sonst weiter schlecht geht. Als Konsequenz habe ich den Kontakt wieder gesucht, ihn getroffen und ihn jetzt auf meiner Reise noch besucht. Wir verstehen uns wieder, und mir geht es sehr gut damit.

#4 Du lernst endlich, aus der Hektik auszubrechen

Alles machen wir nur noch schnell. Überlege einmal, wie oft du heute schon gesagt hast, dass du „noch schnell“ aufs Klo oder zum Einkaufen gehst, die Post reinholst oder was auch immer.

Die Schnelligkeit tut uns aber nicht gut und zermürbt uns auf Dauer. Still zu werden ist der erste und beste Schritt zur Entschleunigung.

Wenn du das ein paarmal ausprobiert hast und sich dein gehetzter Geist langsam an die ungewohnte Ruhe gewöhnt hat, wirst du diesen Zustand nicht mehr missen wollen und versuchen, ihn immer wieder herbeizuführen. Das Gute daran: Es ist so einfach und kostet nichts.

Du hast die Wahl bei der nächsten Mittagspause im Büro: Du starrst weiter auf deinen Bildschirm, du spielst eine Stunde lang auf deinem Smartphone rum, du lässt dich in der Kantine zum hundertsten Mal von den Geschichten der Kollegen langweilen – oder du gehst einfach mal raus, setzt dich irgendwo hin und schaust nur.

#5 Die Ruhe macht dich süchtig

Wenn du diesen Weg mal eingeschlagen hast, wette ich mir dir, dass noch weitere Dinge folgen werden.

Vielleicht fängst du mit dem Meditieren an (für mich übrigens ein wesentlicher Bestandteil, um meine Panikattacken loszuwerden), vielleicht schränkst du deinen Medienkonsum ein, weil du so viel belangloses Geplapper und die dauernde Beschallung nicht mehr ertragen kannst.

Vielleicht gehst du öfter raus in die Natur, in den Wald, die Berge, an einen See, wo das mit dem Stillsein meist noch besser funktioniert als daheim, wo die Ablenkung überall greifbar ist. Egal, was du konkret daraus machst: Es wird dir gut tun.

Eine Randnotiz zum Schluss

In Helsinki steht rund 50 Meter vom größten Einkaufszentrum des Landes die Kampi-Kapelle. Ich habe noch nie etwas Wohltuenderes erlebt, als dort aus der Großstadthektik abzutauchen. Für mich einer der atmosphärisch wohltuendsten Orte, an dem ich je war.

Über eine Stunde habe ich darin verbracht, großteils meditierend. Den Rest der Zeit habe ich damit verbracht, staunend zu beobachten, wie es alle anderen Besucher maximal zwei Minuten dort ausgehalten haben.

Mir schien es, als würde die absolute Stille, die dort vorgeschrieben war, die Menschen komplett überfordern. Unruhiges Hin- und Herrutschen, leises Kichern, und schwupp waren die Leute wieder draußen. Hätte ich denen meine Frage vom Anfang des Artikels gestellt, die Antwort wäre klar gewesen: Nein!

Und wie ist bei dir? Bedeutet dir bewusste Stille auch so viel wie mir? Meditierst du? Oder was hast du sonst für Wege für dich gefunden, zur Ruhe zu kommen? Ich freue mich auf deinen Kommentar.