Schluss mit der Hetze

Wie viel Zeit hast du heute schon gewonnen? Blöde Frage, meinst du? Finde ich auch. Weil du Zeit weder gewinnen noch verlieren kannst. Weil alles nun mal genau die Zeit braucht, die es eben braucht.

Und doch hetzen wir durch die Tage, wie wenn wir durch jede hastig erledigte Handlung ein paar Minuten auf ein Konto einzahlen könnten. Fünf Minuten durch schnelles Laufen, zehn Minuten durch schnelles Autofahren, zwei Minuten durch das Wechseln der Supermarktkasse. Spitze: Sind schon wieder 17 Minuten auf dem Konto!

Das Problem dabei: Niemand wird dir jemals den Betrag auszahlen. Geschweige denn Zinsen darauf geben. Du nimmst dein prallgefülltes Sparkonto mit ins Grab. Unvererbbar.

Hilfe, ein Schlenderer!

Doch trotzdem rennen alle mit. Versuch einfach mal, bedächtig durch eine deutsche Fußgängerzone zu schlendern. Du bist ein Verkehrshindernis, vergleichbar mit jemandem, der sich in einer italienischen Ortschaft an die Geschwindigkeitsbeschränkung hält.

Der alltäglichen Hetze kannst du dich kaum entziehen. Das ist mir nach meiner Rückkehr von der Europatour schmerzlich bewusst geworden. Wenn du nicht aufpasst, wirst du sofort wieder vom Strom der Zeitoptimierer mitgerissen.

Ein paar Tage habe ich gebraucht, bis ich die Bremse gefunden habe. Bis mir klar geworden ist, dass das Schnell-schnell mir nicht gut tut und noch nie gut getan hat. Bis ich mir bewusst gesagt habe: “Ich will da nicht mehr mitmachen.”

Das Hochgeschwindigkeits-Leben macht uns krank

Warum? Weil ich es erschreckend finde, in all die abgehetzten Gesichter zu schauen. Weil unser Hochgeschwindigkeits-Leben uns von uns selbst entfernt und uns krank macht. Weil wir nicht deshalb rennen, weil wir müssen (außer der letzte Zug geht in einer Minute und du hast noch 100 Meter zurückzulegen), sondern weil es alle tun.

Im Getränkemarkt habe ich abends eine Frau beobachtet. Die Wartezeit an Kasse 1 wäre vielleicht drei Minuten gewesen. Dann hat Kasse 2 aufgemacht und sie ist hingerannt, hat hektisch ihren Geldbeutel gezückt und ist nach dem Bezahlen im Laufschritt zum Auto. Und ich habe mich gefragt: “Was hat sie jetzt davon? Dass sie zwei Minuten früher vor dem Fernseher ist?”

Wie wäre es mit einem Tempomat?

Wie wäre unser Leben, wenn wir alle einen Tempomat eingebaut hätten? Einer der uns hindert, unsere zulässige innere Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten?

Würden wir uns dann vielleicht wie die Südeuropäer mehr Zeit für einen Plausch nehmen, wenn wir ein bekanntes Gesicht sehen, anstatt aus der Ferne “Hallo” zu rufen und weiterzuhasten? Würden wir anfangen zu staunen über all die großen und kleinen Wunder des Lebens, die uns täglich begegnen? Würden wir vielleicht sogar öfter einmal lächeln, weil wir gelassener wären?

So oft habe ich in Reiseführern über andere Länder gelesen: “Das Leben spielt sich hier langsamer ab, als Sie es gewohnt sind.” Viele Deutsche neigen aber dazu, das nicht einfach hinzunehmen, sondern sich vor Ort über die jeweiligen Sitten wahlweise lustigzumachen oder aufzuregen. Sie sind so gefangen in ihrem gehetzt-gestresst-zeitoptimierten Rhythmus, dass sie nicht einmal mehr merken, dass ihnen ein anderer Lebensstil besser täte.

Schnell und kurz ist buh

Für mich ist es tagtäglich eine große Aufgabe, mich nicht wieder von der großen Hetze anstecken zu lassen. Dabei hilft mir ein Trick: Ich habe die Worte “schnell” und “kurz” zu Buh-Wörtern erklärt.

Sie sind inzwischen so negativ bei mir verankert, dass ich sofort merke, wenn ich sie wieder benutze. Ich ertappe mich dabei, dass ich sage: “Ich hol mal schnell die Wäsche aus dem Keller” und korrigiere mich: “Nicht schnell. Ich hole mal die Wäsche aus dem Keller.”

Viel zu oft passiert mir das, und noch viel öfter höre ich die Wörter bei anderen. Dabei wird mir schmerzlich bewusst, dass wir ein Volk von “schnell-und-kurz-Sagern” sind. Bestimmt fallen dir auf Anhieb auch jede Menge Tätigkeiten ein, die du verbal immer mit diesen beiden Wörtern verknüpfst.

Kann man langsam aufs Klo gehen?

Was würde eigentlich passieren, wenn wir es mal genau anders herum machen würden? Mal sagen: “Ich gehe mal langsam aufs Klo.” Oder: “Ich schaue mal bedächtig bei den Nachbarn vorbei.” Oder: “Ich fahre mal in Ruhe zum Einkaufen.”

Ich habe es noch nicht ausprobiert. Aber einen Versuch wäre es wert. Und wenn das alles nichts hilft? Dann muss doch der Tempomat her. Aber schnell!

Welche Erfahrungen hast du mit der täglichen Hetze gemacht? Lässt du dich auch anstecken oder hast du ein gutes Gegenmittel? Oder empfindest du so ein Hochgeschwindigkeits-Leben gar nicht als störend? Ich freue mich auf deinen Kommentar.

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