Die Angst und der Alkohol. Zwei sehr gute Freunde. Ich habe länger überlegt, ob ich das heikle Thema angehen soll. Schließlich hau ich dabei Dinge über mich raus, die nicht gerade Heldengeschichten sind.

Ich habe mich letztlich aus zwei Gründen entschieden, den Artikel zu schreiben: a) weil es zu meiner Lebensgeschichte dazu gehört (von der ich in meinem Hörbuch frank und frei erzähle) und ich hier sehr offen über mich berichte und b) weil das Problem weit verbreitet ist.

Warum Angst und Alkohol zwei so gute Freunde sind

1. Alkohol macht die Schüchternen sozial verträglicher

Ist es nicht schön, auf der Party nicht schüchtern in der Ecke zu stehen? Mittendrin im Trubel, statt den anderen beim ausgelassenen Feiern zuzuschauen? Ohne einen Selbstzweifel Frauen anzusprechen, statt diese nur aus sicherer Entfernung zu bewundern?

Kein Problem: Nimm ein paar Getränke und dann geht das von selbst. Grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, dass wir alle mit Alkohol ein wenig lockerer werden, manche Dinge nicht mehr so eng sehen. Bei mir als früher extrem schüchternen Menschen war es aber Selbstzweck.

Gewisse Dinge gingen eben nur unter Alkoholeinfluss, während ich nüchtern viel zu gehemmt war. Ich musste mich also regelmäßig in einen Zustand trinken, von dem ich annahm, dass er mehr meinem echten Wesen entspricht als mein nüchternes Ich.

2.  Alkohol ist dein Anker und dein Rettungsboot

In meinen schlimmsten Phasen von Depression und Panikattacken – zum Glück gab es auch lange Phasen, in denen ich kaum Probleme hatte – war Alkohol für mich überlebensnotwendig.

Um große Menschenansammlungen ertragen zu können, habe ich ein paar Bier zur Beruhigung gebraucht. Um abends endlich vom Job abschalten und einschlafen zu können, habe ich ein paar Bier gebraucht. Während meiner schlimmsten Depression habe ich sogar ein paar Bier gebraucht, um überhaupt noch Appetit zu haben.

Erst, wenn der Alkohol seine Wirkung getan hatte, bekam ich Hunger. Trinken war in diesen Momenten mein Rettungsanker, um überhaupt noch am Leben teilnehmen zu können.

Zum Glück war ich aber nie der, der morgens schon einen Schnaps braucht und diesen tagsüber im Flachmann für alle Fälle mit sich führt. Solche Menschen habe ich bei verschiedenen Hilfsjobs, die ich während meines Studiums gemacht habe, erlebt. Und wahrscheinlich waren diese Abschreckung genug.

Ich habe dazu auch keinen Kasten täglich saufen müssen, sondern meist hat das dritte Bier schon die entsprechende Wirkung entfaltet.

3.  Alkohol knipst deine schlimmsten Ängste aus

Zeit meines Lebens verfolgt mich die Höhenangst. Ich habe zwar zuletzt schon gute Fortschritte gemacht, doch bin ich noch weit davon entfernt, auf einem Grat zu wandern oder ähnliche Dinge zu machen.

Trotzdem bin ich mit Freunden schon einmal vor über 20 Jahren in Kaufbeuren ein Baugerüst am Rathaus mehrere Stockwerke hochgeklettert, um am Ende von weit oben herunterzublicken. Warum? Weil wir alle betrunken waren. Im Nachhinein ist mir schon beim Gedanken daran schwindlig geworden.

4. Alkohol lenkt deine Gedanken kurz von der Angst weg

In Phasen von Depression und großer Angst drehen sich alle deine Gedanken nur um dich und deine Gesundheit. 24 Stunden lang, 7 Tage die Woche. Du bist gefangen im Teufelskreis, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt.

Und dann gönnst du dir ein paar alkoholische Getränke. Und merkst plötzlich, wie du für kurze Zeit aus dem Gedankenkarussell aussteigst. Wie du vielleicht für ein paar Stunden dein Lachen wiederfindest. Wie all die Sorgen auf einmal ganz weit weg sind. Doch natürlich ist das alles nicht nachhaltig. Ganz im Gegenteil.

Warum Alkohol deine Ängste sogar verstärkt

1. Deine Probleme bleiben dieselben

So, jetzt hast du also ein paar halbwegs vergnügliche Stunden mit Hilfe von Alkohol verbracht. Hast deine Probleme mal vergessen können. Und dann wachst du am nächsten Morgen auf.

Sind die Ängste weg? Natürlich nicht. Geht es dir besser? Natürlich nicht. Denn du weißt, dass du wieder einmal die Probleme nur verdrängt hast. Gelöst ist dadurch nichts.

Du würdest gerne den Zustand von gestern Abend wieder herbeiführen. Aber weißt nicht, wie du das ohne das Hilfsmittel Alkohol schaffen kannst. Und dadurch geht es dir noch schlechter als zuvor, weil du siehst, dass diese Methode dich nicht zum Ziel führen kann.

2. Du schläfst noch schlechter

Ach, ist das schön. So ein paar Bierchen und du schlummerst selig ein. Fällst in einen tiefen, traumlosen Schlaf, anstatt wie sonst grübelnd und ängstlich ganze Ewigkeiten wachzuliegen.

Doch dann lässt die Wirkung des Alkohols mitten in der Nacht nach. Du wachst auf und kannst nicht mehr einschlafen. Dein Herz pocht, möglicherweise bekommst du mal wieder eine Panikattacke. Was bleibt ist ein ganz schlechtes Gefühl: Ohne Alkohol sind deine Nächte schlimm. Mit Alkohol sind sie noch schlimmer.

3. Depressionen werden durch Alkohol noch verstärkt

Die berauschende, enthemmende Wirkung ist die eine Seite des Alkoholkonsums. Die Kehrseite ist das, was der Volksmund kurz “Suff-Depression” nennt. Sobald der Blutalkoholspiegel zu sinken beginnt, entsteht ein Zustand der Gereiztheit, Unruhe und depressiven Gefühle.

Für Menschen, die eh schon mit starken Ängsten und Depressionen zu kämpfen haben, eine ganz schlimme Situation. Während psychisch stabile Leute so einen Kater einfach aushalten, können solche Tage für Angstpatienten zum echten Horror werden. Die kurzen Glücksgefühle des Vorabends kommen wie ein Bumerang zurück. 

4. Du wirst träge – dein Körper zahlt es dir heim

Sonntagvormittag, 9 Uhr, 20 Grad, strahlender Sonnenschein. Du könntest dich jetzt auf dein Radl schwingen und eine schöne Tour machen. In die Berge gehen. Oder zum Schwimmen.

Aber du liegst noch im Bett oder auf dem Sofa und leidest. Weil die Party tags zuvor zu hart war. Und bekommst den ganzen Tag deinen Hintern nicht hoch.

Ein paar Mal im Jahr verzeiht dir das dein Körper schon. Aber wenn das zum Dauerzustand wird, dann nicht mehr. Und du gewöhnst dich an die Trägheit. Und bewegst dich weniger. Und merkst, wie deine Fitness sinkt. Und bewegst dich deswegen noch weniger, weil du dich ja nicht überanstrengen willst. Schließlich bist du ja Panikpatient und hast ständig Angst, dir zu viel zuzumuten.

Ein Teufelskreis, in dem du der große Verlierer bist.

Welche Konsequenzen ich daraus gezogen habe

In der Klinik hatte ich mit meinem Therapeuten die Abmachung, dass ich die kompletten fünf Wochen auf Alkohol verzichte. Das Erstaunliche war, dass es ohne Probleme funktioniert hat.

Gut, ich war jetzt kein klassischer Alkoholiker, der einen kalten Entzug durchmachen muss. Aber wie beschrieben, war Alkohol schon ein wichtiges Hilfsmittel in meinen schwierigen Phasen.

Ich habe in der Zeit Dinge festgestellt, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich konnte nüchtern tanzen (vorher unvorstellbar), Party machen (ebenso undenkbar), singen, ausgelassen Freude haben.

Als Nagelprobe habe ich mich nach meiner Rückkehr bereit erklärt, nach einem Abend im Bierzelt den Fahrer für die Kollegen zu machen. Eine bemerkenswerte Erfahrung, unter Tausenden von Menschen einer der wenigen Nüchternen zu sein. Ich hatte richtig Spaß dabei, stand auf der Bierbank, habe getanzt. Unfassbar …

Meine Konsequenz daraus war aber nicht, von nun an komplett auf Alkohol zu verzichten. Ich schätze Alkohol ab und an als Genussmittel: Weißwein zu Austern, Rotwein zu Spaghetti, Bier zu Kässpatzen, das kommt an seltenen Tagen schon vor. Den Rest der Zeit verzichte ich gerne auf Alkohol und habe keine Probleme damit – im Gegenteil, mein Körper freut sich.

Ich weiß, dass ich alles, was ich mit Alkohol kann, inzwischen auch ohne kann. Ich muss nicht mehr trinken, um Ängste zu beseitigen und mich von meinen Problemen abzulenken. Damit geht es mir verdammt gut.

Und sonntags um 9 Uhr liege ich höchstens deswegen noch auf der Couch, weil ich mich von eineinhalb Stunden Morgen-Yoga ausruhe.

Hast du auch schon Erfahrungen mit Angst/Depressionen und Alkohol gemacht? Oder wie stehst du zu diesem Thema? Ich freue mich auf deinen Kommentar.

Auf Angst und Depressionen steht nicht lebenslänglich!

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