Ich liebe es, Mut zu machen. Und ich liebe es, von einem Mutausbruch anderer Menschen zu hören oder zu lesen. In den zwei Jahren seit Bestehen des Blogs habe ich immer wieder beeindruckende Nachrichten von Lesern bekommen, die etwas gewagt haben, was sie sich zuvor nie zugetraut hätten oder was ihre Angst verhindert hatte.

Somit war es ein logischer Schritt für mich, die Serie „Mein Mutausbruch“ zu starten. Ich fasse hier die mutmachenden Geschichten meiner Leser zusammen, die sich irgendwann einmal gesagt haben „Ich kann und mach das jetzt – egal, was dabei passiert.“

In der dritten Folge erzähle ich die Geschichte von Sabine. Seit ihrer Kindheit hatte sie panische Angst vor dem Gotthardpass und Bergstraßen allgemein. Doch dann gab es diesen besonderen Tag im Jahr 2003, als die damals 34-Jährige all ihren Mut zusammenpackte und einfach den Gotthardpass erklomm. Wie genau, liest du hier.

Heute ist Sabine 47 und lebt in Frankfurt am Main. Vor fast genau einem Monat bekam ich von ihr eine E-Mail, die so begann: “Heute ist der Gotthard-Bahntunnel eröffnet worden. Das hat mich mit positiven Gedanken an die Überwindung einer Angst in Zusammenhang mit dem Gotthard erinnert.”

Da bin ich sofort hellhörig geworden und habe mich umso mehr gefreut, dass ich die Erlaubnis bekommen habe, hier ihre bemerkenswerte Geschichte zu veröffentlichen.

Panische Angst vor dem Berg

Von klein auf ist Sabine mit ihren Eltern jedes Jahr mit dem Auto nach Italien gefahren. Bis zur Eröffnung des Gotthard-Straßentunnels 1980 führte die Fahrt zwangsläufig über den Berg. “Jedes mal hatte ich schreckliche Angst. Ich weiß nicht, warum. Es war für mich einfach bedrohlich”, berichtet Sabine.

Ihre Angst war gefühlt genauso groß und massiv wie der Gotthard. Was auch immer ihre Eltern unternahmen: Sie schafften es nie, die Situation zu verbessern. Sie wollten ihr die Angst ausreden und ihr klarmachen, dass es gar keinen Grund gibt, Angst zu haben. Kein Trost oder Verständnis, sondern eher das Motto: “Das kann gar nicht sein.” Wer mit dem Thema Angst schon zu tun hatte, weiß, wie wenig hilfreich solche Aussagen sind.

Auf alle Fälle war die Eröffnung des Autotunnel für Sabine eine Riesenerleichterung. Der elterliche Wagen musste nicht mehr über die Passstraße fahren. Und sie später mit dem eigenen Auto erst recht nicht.

Jahrhundertsommer und ein endloser Stau

Bis besagter Tag im Jahr 2003 kam. Der Jahrhundertsommer mit für unsere Verhältnisse wochenlang unfassbar hohen Temperaturen.

Sabine war allein mit ihrem dreijährigen Sohn auf dem Weg nach Italien. Wie immer war klar, dass die Fahrt durch den Tunnel geht. Wie so oft gab es schon weit vor dem Tunneleingang Stau. Nur im Gegensatz zu sonst hatte es selbst in der Schweiz in dieser Höhe über 35 Grad im Schatten.

Das Auto hatte noch ausreichend Benzin, aber nach mehreren Stunden im Stau und der Ungewissheit, wie lange es noch dauern würde, kamen die Bedenken: Wie lange würde bei Stop&Go das Benzin reichen, wenn noch dazu die Klimaanlage immer wieder läuft? Und wie lange halten ihr Sohn und sie diese unerträgliche Hitze noch aus, wenn die Klimaanlage aus ist? Muss sie vor dem Tunnel plötzlich Angst haben, dass der Tank zur Neige geht und sie es grade noch durch den Tunnel schaffen wird?

Sie beschloss, dass sie ihrem geliebten Sohn, der ja noch ein Kleinkind war, die Hitze nicht mehr länger zumuten konnte und wollte. “Es war der Moment gekommen, meiner Angst vor dem Gotthardpass in die Augen zu schauen”, sagt sie.

Ein Gespräch mit der Angst und los geht’s

Bevor sie auf die Auffahrt zum Pass gefahren ist, hat sie sich selbst mit den Worten “Ich schaffe das, ich überlebe das” gut zugeredet. Dann hat sie ein Gespräch mit der Angst geführt und in Gedanken gesagt: “Okay ich spür dich, du scheiß Angst. Du sitzt auf meiner Brust wie ein schwerer Sandsack und willst mir die Luft zum Atmen nehmen. Jetzt ist genug damit! Du hältst mich nicht mehr klein – ich werde gut drüben ankommen.”

Also hieß es: allen Mut zusammen raffen und an der Ausfahrt raus und auf den Weg über den Pass. Sie sagte sich: “Und wenn ich 8 Stunden über den Pass brauchen würde – scheiß drauf! Du ziehst das jetzt durch und du
kannst dir alle Zeit der Welt dafür nehmen.”

Sabine war sehr nervös, denn immer mehr Autos fuhren aus dem Stau auf die Auffahrt zum Pass. Es ging also erstmal dicht gedrängelt hoch. Das hatte aber auch den Vorteil, dass es langsam voran ging und sie ruhiger werden konnte. Drängeln, weil sie vielleicht zu langsam oder unsicher gefahren wäre, konnte in der Situation ja niemand.

Stolz und mit Tränen in den Augen

Oben angekommen ist sie erstmal an die Seite gefahren und ausgestiegen. Eine grandiose Aussicht und ein noch viel größerer Stolz auf den eigenen Mut, dass es ihr die Tränen in die Augen getrieben hat. Sie hatte es geschafft!

Sie war sicher oben angekommen. Die Fahrt ins Tal war dann gar kein Problem mehr. Im Gegenteil: “Ich hab die Fahrt dann richtig genießen können”, erzählt Sabine.

Seitdem fährt sie zwar immer noch durch den Gotthard-Tunnel (für Menschen mit einem Angstthema eh eine grandiose Leistung, siehe dazu auch diese Mutausbruch-Geschichte über Tihana), weil es einfach viel Zeit erspart. Aber sie genießt es ebenso ab und an, den Pass zu nehmen – oder auch mit Neugier andere Pässe zu fahren – und ist jedesmal stolz drauf. Stolz und dankbar dafür, dass sie damals ihre Angt überwunden hat. An dem Tag, als ihr besondere Kräfte gewachsen sind, weil sie ihren Sohn beschützen wollte.

Nicht aufgeben lautet Sabines Fazit

Sabine sagt, dass eine unterschwellige Angst in ihrem Leben immer ein Thema war und immer noch ist. Doch ihr großartiger Mutausbruch hat ihr gezeigt, dass es sich lohnt weiterzumachen und dran zu bleiben, wenn wieder Ängste auftauchen. “Ich packe seitdem immer mal wieder etwas mutiger an. Mal mit Erfolg, mal (erstmal) mit Niederlagen. Aber ich geb nicht auf”, lautet ihr Fazit.

Durch die Eröffnung des Gotthard Eisenbahn-Basistunnels ist sie positiv dran erinnert worden. Denn sie hat sich selbst bewiesen: “Ich kann das.”

Das ganze Leben auf den Kopf stellen? Muss nicht sein

Mir persönlich gefällt die Geschichte deshalb so gut, weil sie eines zeigt: Ein Mutausbruch muss nicht sofort dein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Aus einem eher ängstlich veranlagten Menschen muss auch nicht im Handumdrehen der größte Abenteurer der Welt werden.

Es reicht, wenn die Bekenntnis zum eigenen Mut dazu führt, sich im Leben immer wieder etwas zu trauen, die Angst anzunehmen und das Beste draus zu machen. Ein wichtiger Moment, der für immer abgespeichert ist und zeigt, wie viel im Leben möglich ist. Danke Sabine für dieses großartige Beispiel!

Hast du auch schon mal etwas Verrücktes gewagt, was du dir selbst und auch sonst niemand zugetraut hätte? Wann hast du einmal der Angst ins Gesicht gelacht und gesagt: „Ich mach das jetzt trotzdem!“? Wenn ich auch deine Geschichte erzählen darf, dann schreib mir gerne an mischa@adios-angst.de – ich freu mich drauf!

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