Ein Gastbeitrag von Monika Szelag

Mischa hat mich nach seinem Artikel aus der Vorwoche über seine aktuellen Erfahrungen mit dem Absetzen von Antidepressiva gebeten, einen Gastbeitrag zum Thema „Psychopharmaka absetzen“ zu schreiben – und zwar aus fachlicher Sicht. Ich freue mich über diese Möglichkeit und möchte euch zu Beginn einen Blick hinter die Kulissen geben: Ich habe Psychologie studiert und meine Psychotherapieausbildung begonnen.

Meine Meinung über Psychopharmaka

Der Kampf zwischen Psychologie und Medizin ist einer der ältesten auf dem Gebiet der psychischen Erkrankungen. Der Streit zwischen biologischen und sozialen Theorien der Krankheitsentstehung, die Diskussion darüber, was besser ist: Gesprächstherapien oder Medikamente.

Es gibt so viele Menschen, die sagen: „Die Tabletten haben mich gerettet“. Ihnen gegenüber steht die sogenannte „Anti-Psychiatrie Fraktion“.

Nun könnte man meinen, dass ich mit meiner fachlichen Ausbildung die Meinung vertrete, Psychopharmaka wären absolut schlecht und psychologische Verfahren beziehungsweise Psychotherapie die beste Wahl. Doch ganz so einfach ist das nicht.

Ich weiß, dass Medikamente vielen Personen helfen.

Ich weiß aber auch, dass sie vielen schaden.

Ich bin davon überzeugt, dass Psychotherapie vielen Personen hilft.

Aber auch, dass sie einigen nicht helfen kann, dass sie dadurch trotzdem nicht gesund werden.

Es ist also nicht ganz so einfach mich einzuordnen.

Ich bin kein Anhänger der Anti-Psychiatrie Bewegung.

Und ganz bestimmt kein absoluter Psychiatriebefürworter.

Aber – und das ist meiner Meinung nach das Wichtigste – durch meine Recherchen über ganzheitliche Gesundheitsmethoden bin ich der festen Überzeugung, dass jede Person große Linderung oder auch Heilung ihrer psychischen Symptome erfahren kann. Gesund werden kann. Und das ohne Tabletten. Doch dazu später mehr.

Was viele Behandler nicht wissen

Auf der Universität habe ich viel gelernt. Psychologie (oder Medizin) zu studieren war mein Wunsch, seitdem ich 17 Jahre alt war. Ich lernte also über die wissenschaftlich besten Behandlungsmethoden für diverse psychische Erkrankungen: Mal war das Mittel der Wahl die Verhaltenstherapie, mal Medikamente und oft eine Kombination aus beidem. Über die Nebenwirkungen der Medikamente wurde ein wenig gesprochen, doch hieß es oft: Man müsse die Risiken (Nebenwirkungen) und den positiven Einfluss der Substanzen miteinander vergleichen und abwägen. Das Risiko-Nutzen-Verhältnis.

Für Menschen, die aufgrund einer Depression nicht aus dem Bett aufstehen können oder vor lähmender Angst das Haus nicht mehr verlassen können und immens leiden, steht der Nutzen meist über dem Risiko. Das bedeutet konkret: Selbst wenn diese Person 10 kg zunimmt, sexuelle Probleme bekommt (eine der häufigsten Nebenwirkungen von psychiatrischen Medikamenten) und emotional abstumpft, ist es ein Erfolg, wenn sie das Haus wieder verlassen beziehungsweise aufstehen kann, einen Job findet und funktioniert. Auch der Betroffene selbst wertet das als einen Erfolg.

Doch was weder im Psychologiestudium noch im Medizinstudium (wo ich meine Freifächer belegt und zusätzlich freiwillig Vorlesungen besucht habe) vorkam, waren folgende Themen:

  • Wie helfe ich Patienten dabei, Psychopharmaka risikoarm wieder abzusetzen?
  • Und bezogen auf Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI): Was passiert nach einer jahrelangen Einnahme im Körper (zum Beispiel bei einer Dauereinnahme von 5 bis 15 Jahren)?
  • Sind diese Medikamente wirklich dafür geschaffen, sie ein Leben lang problemlos nehmen zu können?
  • Wie kann man vorgehen, wenn man nach dem Absetzen dieser Substanzen gesundheitliche Probleme bekommt? Ist ein Leben ohne dauerhafte Tabletteneinnahme möglich?
  • Und welche Alternativen bleiben, wenn man aufgrund von gesundheitlichen Problemen wie starkem Übergewicht, Herzrhythmusstörungen (manche Antidepressiva wie Citalopram können das „QT- Intervall“ verlängern) oder einer geplanten Schwangerschaften absetzen muss/möchte? Welche Alternativen gibt es überhaupt?

All diese Fragen gehen in der Ausbildung unter. Da man nichts darüber weiß, merkt man es nicht einmal. Die meisten Studenten behalten nur im Kopf, dass es gute Medikamente gibt und man diese empfehlen kann. Auch ich hatte diese Meinung, bis mich mein Leben auf einen anderen Weg führte.

Eine mir nahestehende Person bekam ein Antidepressivum verschrieben. Die Tabletten haben geholfen, brachte aber auch zahlreiche Nebenwirkungen mit sich. Nach drei Jahren folgte ein zu schnelles Absetzen. Dann der absolute Zusammenbruch: körperlich wie psychisch. Was danach folgte, war eine Krankheit, für die kein Arzt einen Namen hatte. Gleich zu Beginn hieß es nur: Tabletten wieder eindosieren, alles psychisch. Und das, obwohl die Symptome ganz anders waren als zu Beginn der Verschreibung.

Der Beginn meiner Recherchen zum Absetzsyndrom

Da begannen meine Recherchen. Und ich habe in zwei Jahren sehr viele Informationen gefunden – meist englischsprachig, denn auf Deutsch gab es kaum etwas (was im Übrigen meine Motivation war, meinen Blog zu gründen). Ich fand heraus, dass es ein „Psychopharmaka-Absetzsyndrom“ gibt, lange Krankheitsverläufe (nicht bei jedem!), viele Ursachen für psychische Symptome und zahlreiche Möglichkeiten, gesund zu werden. Und diese haben funktioniert, es gab ein Happy End.

Ich bin keine Ärztin, es wäre fahrlässig Tipps aufgrund nur einer erlebten Erfahrung zu geben, das tue ich nicht.

Aber ich lese sehr viel, übersetze und sammle.

All die Informationen internationaler Experten und all die ganzheitlichen Methoden, mit Krisen umzugehen.

Natürlich setze ich diese Methoden auch persönlich ein: An meinen schweren Tagen oder vor Ereignissen, vor denen ich mich fürchte. Denn diese Gefühle sind menschlich, Arzt oder Psychologe zu sein schützt davor nicht.

Doch nun zu meinen konkreten Tipps.

5 Faktoren, die dabei helfen, Psychopharmaka risikoarm abzusetzen:

1. Nur in Zusammenarbeit mit Experten

Psychopharmaka sollte man niemals von heute auf morgen abrupt weglassen. Das kann sehr gefährliche Folgen haben! Am besten du besprichst und planst den Vorgang zusammen mit deinem Arzt. Man braucht manchmal etwas Geduld, bis man einen Experten findet, der offen für diese Thematik ist beziehungsweise sich damit auskennt. Du kannst dir aber auch Unterstützung von ganzheitlich arbeitenden Medizinern, Psychotherapeuten oder Heilpraktikern holen.

2. Sich informieren, aber nicht verunsichern lassen

Es ist sinnvoll, sich darüber zu informieren, welche Symptome beim Absetzen von Psychopharmaka auftreten können. Gleichzeitig solltest du aber versuchen, dich nicht verunsichern zu lassen, denn es gibt viele Menschen, die dabei gar keine Probleme haben. Jeder Körper reagiert anders. Solltest du Absetzsymptome merken, ist es beruhigend zu wissen, worum es sich handelt und dass es vorübergehen wird.

Hier ein Buchtipp: „Psychopharmaka absetzen: Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern“ von Peter Lehmann.

3. Auf das Tempo achten

Viele Mediziner lassen ihre Patienten zu schnell abdosieren. Das Ausschleichen sollte einige Monate dauern, bei empfindlichen Personen manchmal sogar Jahre. Vor allem, wenn man Symptome bemerkt, sollte man das Tempo drosseln und sich Zeit lassen.

Die Packungsbeilagen der SSRI ändern sich laufend: Im Jahr 2008 war darin noch vermerkt, man könnte innerhalb von wenigen Wochen ausschleichen und Absetzsymptome würden nie länger als zwei Wochen dauern. Heute heißt es: „Im Allgemeinen bilden sich diese Symptome von selbst zurück und klingen innerhalb von 2 Wochen ab. Bei einigen Personen können sie länger anhalten: 2 – 3 Monate oder länger.“ (Quelle: Packungsbeilage von Citalopram)

Diese Informationen werden in Zukunft gewiss weiterhin aktualisiert werden, da es SSRI erst seit 31 Jahren gibt und viele Langzeitverläufe (also eine Dauereinnahme von 10 bis 20 Jahren) erst gemeldet/untersucht werden.

4. Den Körper unterstützen

Der Körper muss erst wieder zu seinem natürlichen Gleichgewicht zurückfinden. Es ist sinnvoll, in der ersten Zeit einen Gang herunterzuschalten, sich vermehrt Ruhe und Schlaf zu gönnen, auch viel Wasser zu trinken. Zu akzeptieren, dass man eine Zeit lang nicht so belastbar ist wie sonst. Jeder von uns kann sich mit Achtsamkeit und Akzeptanz einen Zeitraum gönnen, in dem er es ruhiger angehen lässt. Du kannst diese Phase auch dafür nutzen, nachzuspüren: Was tut mir gut? Was nicht?

5. Zum Gesundheitsdetektiv werden

Sich selbst (mit der Hilfe von Büchern oder Experten) besser kennenlernen. Seine ursprüngliche Krise oder Erkrankung besser verstehen lernen. Nach den Ursachen forschen. Über diesen Punkt könnte ich ein ganzes Buch schreiben (was ich in Zukunft auch tun werde), hier ein paar Beispiele: Habe ich Nahrungsmittelunverträglichkeiten, von denen ich nichts weiß? Was sind meine „Trigger“ (Auslöser für negative Emotionen) und wie kann ich besser mit ihnen umgehen? Wie steht es um meine Hormone? Sind meine Schilddrüsenwerte im Normbereich? Sollte ich etwas in meinem Leben ändern, weil es mir auf Dauer schadet?

Das Absetzen von Psychopharmaka ist genauso wie das Überwinden einer psychischen Krise eine Reise: Am besten ist es, man geht den Weg langsam und achtsam. Schritt für Schritt. Und teilt sich Wegabschnitte mit anderen, denn diese können uns die richtigen Abzweigungen zeigen und die Reise schöner machen. Natürlich macht man auch Pausen – man setzt sich in den Schatten und entspannt. Tankt neue Kraft für die nächsten Schritte.

Auf dem Weg zur Gesundheit ist die eigene Intuition der beste Begleiter.

Anmerkung: Diese Informationen dienen der Aufklärung, können aber keine Behandlung durch Ärzte, Psychotherapeuten oder Klinische- und Gesundheitspsychologen ersetzen. Psychopharmaka sollten niemals abrupt und ohne ärztliche Absprache abgesetzt werden!

MoniÜber die Autorin: Moni ist Psychologin, lebt in Wien und gründete Anfang 2015 die Informationsplattform My Free Mind. Dort schreibt sie unter dem Namen Freigeist über ganzheitliche Psychologie und Aufklärung zum Thema Psychopharmaka.

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