Airport terminal. Flugangst. Panikattacken

Eine der größten Herausforderungen des Lebens – wenn nicht gar die größte überhaupt – ist es, seinen Ängsten ins Auge zu schauen. Viele kleine und große Ängste hindern uns täglich daran, unser Leben in all seinen Möglichkeiten auszuschöpfen. 

In der neuen Serie “Nur Mut”, die regelmäßig auf diesem Blog erscheint, befrage ich Menschen, die sich ihren Ängsten in den unterschiedlichsten Bereichen gestellt haben. Diese erzählen, wie sie davon profitiert haben und welche Auswirkungen das auf ihr Leben hatte. Zudem werden im Lauf der Zeit auch Experten zu diesem Thema zu Wort kommen. 

Weiter geht es heute mit David. Er ist 32 Jahre alt, noch wohnhaft in Bottrop, ab November Wahl-Kölner. Er ist gelernter Krankenpfleger und Mediendesigner und arbeitet momentan als Mediendesigner bei einer großen deutschen Klinikgruppe.

Hallo David, ich wähle heute mal einen ungewöhnlichen Einstieg für ein Interview und sage einfach: Ich freue mich tierisch, dass ich Dich interviewen darf. Wir haben uns per Mail kennengelernt. Und die Hemmschwelle, offen über Panikattacken zu sprechen, ist groß. Du machst es aber an dieser Stelle. Ist Dir die Zusage zum Interview schwer gefallen?

Hi Mischa, danke erstmal, dass ich Dein Interviewpartner sein darf.
Meine erste Panikattacke ist mittlerweile fast zehn Jahre her. Hättest Du mich damals gefragt, ob ich bereit wäre, offen über meine Attacken zu sprechen, wäre die Antwort vermutlich nicht „Nein“ gewesen, sondern ich hätte Dich irritiert gefragt, wieso Du Interesse daran hast.

Ich meine, als das damals bei mir anfing und ich versucht habe, es ein paar Leuten zu erklären, war nicht mit viel Verständnis zu rechnen. Oder zumindest wurde es nicht ernst genommen. Es fielen eher so Kommentare wie „Ach komm, jeder hat mal Angst. Stell Dich nicht so an! Wird schon wieder!“. Das ist ungefähr so, als würde ich zu einem Bettlägerigen sagen „Mensch Junge, komm, den ganzen Tag im Bett rumliegen geht aber wirklich nicht!“.

Im Laufe der Zeit habe ich erfahren, dass ich aber gar nicht der Einzige mit so einer Krankheit bin. Das hat es mir leichter gemacht, auch darüber zu reden. Um Deine Frage aber ganz klar zu beantworten: Nein, es fällt mir nicht schwer, weil ich denke, mein Erfahrungsbericht (und die der noch folgenden Interviewpartner und natürlich Dein eigener) kann dazu beitragen, dass sich der ein oder andere nicht „allein gelassen“ fühlt.

David Panikattacken

Ich weiß schon ziemlich viel von Dir, meine Leser noch nicht. Magst Du erzählen, wann und unter welchen Umständen Du eine erste Panikattacke bekommen hast?

Das war ziemlich strange. Es war im Mai 2005. Ich hatte im Januar ein süßes Mädchen kennengelernt und kam dann auch recht zügig mit ihr zusammen. An jenem Tag im Mai fuhren wir wegen des schönes Wetters in eine Eisdiele und setzten uns draußen an einen der freien Tische. Alles war super. Alles war gut. Urplötzlich und von jetzt auf gleich fing es an, mir schlecht zu gehen. Ganz komisch irgendwie. So etwas hatte ich vorher noch nie gehabt. Natalie sah mir an, dass es mir irgendwie nicht gut ging und so beschlossen wir, nach Hause zu fahren. Ich war noch nicht einmal mehr in der Lage, das Eis zu bezahlen, sagte zu ihr: “Ich gehe schon mal zum Auto.” Also ging sie rein und zahlte. Im Auto wurde es nicht besser. Eher im Gegenteil. Ich dachte echt, ich bekomme einen Herzinfarkt oder nen Schlaganfall oder irgend etwas anderes, was mich jeden Moment dahinraffen würde.

Als wir zu Hause ankamen, legte ich mich direkt auf die Couch. Mir war arschkalt und ich zitterte wie verrückt. „Alter Schwede, Du stirbst an einem Zuckerschock!“, war einer der Gedanken, die mir durch den Kopf gingen. Irgendwann schlief ich dann ein. Als ich wieder aufwachte, fühlte ich mich ungefähr so, als hätte ich zwei Triathlons direkt hintereinander absolviert: Einfach nur tierisch kaputt! Aber damit war die Sache eigentlich abgehakt. „War wohl nicht mein Tag“, tat ich das ganze Szenario ab.

In den darauffolgenden Tagen ging ich ganz normal wieder zu Arbeit. Ich machte grad eine Ausbildung zum Krankenpfleger, und zu dem Zeitpunkt arbeitete ich im Tagdienst auf einer internistischen Station. Ich sollte aber auch Nachtdienst haben. Also fuhr ich eines Abends zum Dienst, und mit der Kollegin machten wir unsere Arbeit. Auf einmal fing es wieder an. Mir ging es total schlecht und ich dachte, jeden Moment sterben zu müssen. Ich sagte meiner Kollegin, dass es mir nicht gut geht und ich sofort nach Hause fahren muss.

Scheinbar hatte ich Panik in den Augen, oder sie sah mir einfach an, dass es mir total schlecht ging. Sie sagte, sie lasse mich so nicht nach Hause fahren, rief die diensthabende Ärztin an und ein paar Minuten später lag ich auf der Krankenliege im “Schockraum” in der Notfallambulanz. Die Ärztin schrieb ein EKG, Blutdruck, Blutzucker etc. Bis auf einen exorbitant hohen Blutdruck und sauschnellem Puls war aber alles in Ordnung. Sie zog noch einen Neurologen hinzu, der machte ein paar Tests mit mir. Irgendwann ging es mir wieder besser, und ich bin nach Hause gefahren.

Zwar sagte die Ärztin, ich solle eine Nacht stationär bleiben, aber komischerweise wusste ich: „So, alles klar, das war jetzt das Gleiche wie vor ein paar Tagen in der Eisdiele. Ein paar Minuten noch, dann sollte es mir eigentlich wieder etwas besser gehen.“ So war es dann auch. Am nächsten Tag bin ich zu meinem Hausarzt, und er hat mich erst einmal für ein paar Tage krank geschrieben. Ich dachte, es würde besser werden, wurde es aber leider nicht.

Wie und wann hat sich die Panik bei Dir bemerkbar gemacht? Welche Symptome sind dabei aufgetreten?

Es kam in undefinierbaren, ganz normalen Situationen dazu: Beim Mittagessen, beim TV gucken. Auch bei eigentlich schönen Dingen. Beim Kuscheln, beim Sex. Einfach so. Ohne erkennbaren Auslöser. Mir wurde schlecht, mein Puls begann zu rasen wie verrückt, die Atmung wurde immer schneller bis kurz vorm Hyperventilieren. Und immer wieder dieser Gedanke: “Ich werde gleich sterben.”

David Panikattacken

Das Schlimme bei Panikattacken ist ja, dass es irgendwann keinen konkreten Auslöser mehr braucht, sondern dass die Panik vor der Panik da ist – das heißt, man will eine Attacke unbedingt vermeiden und macht es dadurch noch schlimmer. Wie war das bei Dir?

Bei der Frage musste ich jetzt kurz lachen. Ich erkläre Dir, warum: Mein damaliger Therapeut machte mit mir einen Versuch. Wir trafen uns im CentrO. Wer das CentrO in Oberhausen nicht kennt: Das ist eine Shopping-Mall mit einer Fläche von 119.000 Quadratmetern und ca 220 Geschäften auf zwei Etagen. Im Außenbereich befindet sich eine große Gastronomie-Meile. Wir trafen uns am Eingangsbereich, und mein Therapeut machte den Vorschlag, wir würden jetzt einfach mal durchs CentrO schlendern. Wenn bei mir eine Symptomatik auftauche, solle ich es ihm sofort beschreiben.

Einen Scheiß habe ich gemacht! Natürlich hatte ich Symptome. Und was für welche. Ich war aber einfach nur froh, als wir am Ende angekommen waren. Fest in dem Gedanken, dass ich gleich wieder nach Hause fahren kann, halste er mir eine zweite Aufgabe auf: Ich solle einmal alleine durch die ganze Menschenmenge gehen und wir würden uns am Ausgangs-Treffpunkt wieder treffen. „Klar!“ dachte ich. „Wenn der Alte weg ist, geh ich schön außen rum!“. So kam es dann auch. Ich habe mir sofort den nächsten Ausgang gesucht und bin außen an der Gastro-Meile entlang gegangen. Was ich nicht wusste: Er ist mir natürlich gefolgt, um mein Verhalten zu checken! Einige Jahre später erzählte er mir, dass er noch heute manchen Patienten von mir und dieser Aktion, die vorher noch niemand brachte, erzählt. Natürlich anonym.

Diese Geschichte ist eigentlich stellvertretend für all mein damaliges Verhalten. Oder eben „Nicht-Verhalten“. Ich habe alles nur Erdenkliche gemieden. Treffen mit Freunden, mit der Freundin etwas unternehmen, etc… Eben aus Angst vor der Angst. Dadurch ist leider auch mein damaliges größtes Hobby zerbrochen. Die Musik. Ich war damals Schlagzeuger in einer Band. Und wirklich der felsenfesten Überzeugung, wir können damit professionell durchstarten. Wer weiß, was noch alles hätte passieren können. Ich jedenfalls sagte ständig die Proben ab.

Du hattest – und das ist aus meiner eigenen Erfahrung wirklich nicht selbstverständlich – einen Hausarzt, der die richtige Diagnose „Angststörung“ gestellt und Dich zu einem Therapeuten überwiesen hat. Ein echter Glücksfall, oder?

Ob er letztlich die richtige Diagnose gestellt hat, weiß ich gar nicht mehr genau. Jedenfalls hat er erkannt, dass meine Symptomatiken psychosomatischer Natur sind und mich zunächst an einem Psychiater überwiesen. Ich dachte, mein Hausarzt hat nicht mehr alle Latten am Zaun. Ich und Psychiater. Ich bin doch nicht irre. So waren meine Gedanken damals.

Der Psychiater war soweit ganz in Ordnung, hat mir aber lediglich nur Tabletten verschrieben und mir eine Liste mit Psychotherapeuten aus der Umgebung mitgegeben, die so lang war, dass locker das neue Testament darauf gepasst hätte. Im Ernst, ich hätte mir mehr erhofft. Mein Hausarzt empfahl mir dann einen Therapeuten von der besagten Liste. Das war auch mein Glück. Ich bin da wirklich an jemandem geraten, der mir auf Anhieb sympathisch war. Mein Hausarzt machte für mich einen Termin, den ich glücklicherweise bereits schon nach zwei Wochen Wartezeit in Anspruch nehmen konnte. Leider keine Selbstverständlichkeit.

Wann hast Du während der Therapie zum ersten Mal gemerkt, dass Erfolge da sind? Und mit welcher Methode ist Dein Therapeut herangegangen?

Das Beispiel mit dem CentrO spiegelt ziemlich gut seine Behandlungsmethode wieder. Klassische Verhaltenstherapie würde ich sagen. Mir tat es auch gut, dass er mich nicht bemitleidet hat oder dergleichen. „Was meinen Sie, was Ihnen schlimmstenfalls passieren könnte?“ „Dass ich sterbe!“ „Wäre doch gar nicht so schlecht. Dann hätten Sie ja schon mal alles hinter sich! Aber so schnell stirbt es sich nicht!“ Das war jetzt ein Gedächtnisprotokoll meinerseits. Das war sicherlich nicht sein Wortlaut, aber die Message kam so… Ich habe schon mit einigen Leuten gesprochen, die ebenfalls in therapeutischer Behandlung sind oder waren – und ich kann wirklich sagen, dass ich einen der Besten abbekommen habe.

David Panikattacken

Spulen wir drei Jahre nach vorne. Jetzt kommt eine Geschichte, die ich so bewundernswert finde, dass ich sie gar nicht oft genug anderen Menschen erzählen kann (und die mir selbst, der ich seit 22 Jahren in keinem Flieger mehr saß, als großes Vorbild dient): Obwohl Du letztlich noch immer Angstpatient warst und noch nie geflogen bist, hast du Dich in einen Flieger nach Taiwan gesetzt. Warum?

Natalie, meine damalige Freundin und mittlerweile meine Verlobte, ging für ein zweimonatiges Praktikum nach Taiwan. Ich habe Rotz und Wasser geheult, weil für mich eigentlich total klar war, dass wir uns zwei Monate lang nicht sehen werden. Nie im Traum habe ich eine Reise nach Taiwan in Erwägung gezogen. Taiwan! Asien! Anders! Weit weg von zu Hause. Ich verlasse doch nicht meinen sicheren Radius. Wie erkläre ich dem asiatischen Notarzt, dass ich gleich sterben werde. Haben die in Asien überhaupt Notärzte…?! Solche Gedanken sind mir durch den Kopf geschossen. Du weißt was ich meine?!

Vier Wochen später saß ich im Flieger. Und Du kannst mir glauben, dass das nicht einfach war. Weder für meine Eltern, noch für meine Freundin oder meinen Therapeuten. Und schon gar nicht für mich.

Was ging in den Wochen vor dem Flug durch Deinen Kopf?

Ich glaube, ich war teilweise so schlimm, dass selbst mein Therapeut kurze Zeit danach eine Therapie gebraucht hätte. Es war wirklich ein sich ständig wechselnder Sinneswandel. Es ging ungefähr immer so: Ein Tag: „Scheiße, ich mach das. Auf jeden Fall!“ Der andere Tag: „Scheiße, auf keinen Fall…!“ und so weiter… Ich war teilweise wirklich etwas verwirrt. Paulo Coelho würde vermutlich in seinen Büchern etwas schreiben, wie „Die Liebe hat die Dämonen besiegt…“ Und tatsächlich ist da was dran. Ich wäre schließlich nicht einfach so auf die Idee gekommen, mal „eben“ nach Taiwan zu fliegen.

Was haben dieser erste Flug und die Reisen in den darauf folgenden Jahren mit Dir gemacht?

I was „made in Taiwan“ fällt mir dazu ein. Das Reisen hat mir die Angst genommen. Sicherlich ist vorher schon eine ganze Menge Vorarbeit geleistet worden, doch als ich zum allerersten Mal in meinem Leben trotz der größten jemals gespürten Angst in einen Flieger stieg… Dieses Gefühl etwas geschafft zu haben… Unglaublich! Und zusammen mit meiner Freundin eine fremde Kultur zu erleben, war etwas Außergewöhnliches, für das ich wirklich sehr dankbar bin.

Ich weiß nicht, ob es so etwas gibt wie „Nichts passiert ohne Grund“, aber ich jedenfalls weiß für mich, dass das Reisen mir die Angst genommen hat. Mein Buch, an dem ich gerade arbeite, hat den Arbeitstitel „Rockstars und andere Otto Normalverbraucher. Oder: Wie das Reisen meine Welt wieder rund machte!“. Und da ist wirklich etwas dran. Als ich damals in den Flieger stieg, ist irgend etwas in mir passiert. Etwas Gutes. Heute habe ich höchstens noch Angst, nicht wieder fliegen zu können. Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich meinen Lebensunterhalt ausschließlich mit dem Reisen und dem Schreiben bestreiten. Aber das ist ein anderes Thema.

Wie gehst Du heute mit der Angst um, wenn sie sich nochmal meldet?

Tatsächlich ist es so, dass auch heute noch, nach fast zehn Jahren, hin und wieder etwas aufkeimt, bei dem ich früher hyperventiliert und mich in eine Panikattacke hineingesteigert hätte. Das passiert zwar äußert selten, doch ich nehme es als Warnsignal wahr, dass irgend etwas grad nicht so läuft, wie es laufen sollte. Nicht mehr, nicht weniger. Die Panikattacke, wie ich sie von früher kenne, gibt es schlicht und einfach nicht mehr!

Ergänze zum Schluss bitte noch folgenden Satz: Das beste Mittel gegen die Angst ist …

… sich ihr zu stellen. Wirklich. Ich kann wirklich jedem versprechen, dass es wieder besser wird. Bitte haltet durch!

Vielen Dank für das Interview, David!

 

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