Ich liebe es, Mut zu machen. Und ich liebe es, von einem Mutausbruch anderer Menschen zu hören oder zu lesen. In den zwei Jahren seit Bestehen des Blogs habe ich immer wieder beeindruckende Nachrichten von Lesern bekommen, die etwas gewagt haben, was sie sich zuvor nie zugetraut hätten oder was ihre Angst verhindert hatte.

Somit war es ein logischer Schritt für mich, die neue Serie “Mein Mutausbruch” zu starten. Ich fasse hier die mutmachenden Geschichten meiner Leser zusammen, die sich irgendwann einmal gesagt haben “Ich kann und mach das jetzt – egal, was dabei passiert.” Freu dich auf bewegende und faszinierende Berichte. Los geht’s!

Das ist die unglaubliche Geschichte von Christine. Die nach 50 Jahren mit mehr oder weniger schweren Angstzuständen beschloss, dass sie nichts mehr zu verlieren hat. Die einfach mal mit dem Auto neun Stunden allein zu einem Konzert nach München gefahren ist, obwohl sie sich sonst kaum traut, zum Einkaufen aus dem Haus zu gehen. Du meinst, das geht nicht? Dann lies unbedingt weiter!

Christine lebt in einem Häuschen in der Lüneburger Heide. Die Mieten dort sind sehr günstig, sodass ihre kleine Witwenrente dafür ausreicht. Seit 11 Jahren wohnt sie dort. Bis auf die neuen Nachbarn, die vor einem halben Jahr dort hingezogen sind, hat sie keine sozialen Kontakte. „Ich lebe als Einsiedlerin“, gibt sie offen zu.

Essen auf Rädern ist auch keine Lösung

Aus dem Haus geht sie nur, wenn es sich gar nicht verhindern lässt. Zu jedem Einkauf muss sie sich überwinden. Es gab Phasen in ihrem Leben, da war ihre Angst so groß, dass sie selbst für das Besorgen der Lebensmittel keine Kraft mehr verspürte. Essen auf Rädern lautete die Alternative für ein paar Wochen, die aber keine war. „Die Portionen waren so klein, dass ich dann doch wieder lieber selbst zum Einkaufen gegangen bin“, erzählt Christine und lacht herzlich.

In meinem Telefonat mit ihr merke ich sofort, wie viel Humor und Willen die 54-Jährige hat. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – sie seit einem traumatischen Erlebnis in frühester Kindheit schwere Angstzustände hat, für die auch verschiedene Therapien keine Besserung brachten.

Christine hat wegen ihrer Krankheit – auch Anorexie war lange Zeit ein Thema – nie gearbeitet. Sie sagt: „Ich kann mit niemandem zusammenleben. Ich bekomme Panik, sobald jemand nach Hause kommt und die Tür aufmacht.“ Trotzdem wohnte sie – nur unterbrochen von eineinhalb Jahren in einer therapeutischen Wohngemeinschaft – mit ihrem Mann und den zwei Kindern zusammen, bis diese 14 und 15 waren. Danach folgte der komplette Rückzug.

Die Bilder von einem anderen Leben

Bilder von einem anderen Leben waren aber immer in ihrem Kopf. Da war diese wunderschöne Erinnerung an die Zeit mit Anfang 20. Damals hatte sie ihre beiden kleinen Kinder einfach ins Auto gesetzt und war mit ihnen für vier Monate nach Spanien gefahren. Die Angst war nur am ersten Tag da. „Wir hatten eine feine Zeit, das hat richtig Spaß gemacht“, erzählt Christine.

Der Wunsch nach Freiheit war früher schon da. Mit 17 wollte sie von zuhause abhauen und nach Indien gehen. „Wenn es damals schon das Internet gegeben hätte, wäre ich in Goa hängengeblieben“, sagt sie.

Plötzlich war die Zeit für den Mutausbruch gekommen

So blieb das Bild vom Abenteuer und Reisen immer im Kopf. Und tauchte vor wenigen Monaten wieder auf. Ganz groß und ganz bunt. So kräftig und mächtig, dass Christine wusste, dass es nun Zeit für einen Mutausbruch ist.

Seit ihrem ersten Kommentar zu meinem Artikel „Du kannst deiner Angst nicht davonfahren“ stehen wir in Kontakt. Ich war sowas von gespannt, wie Christine ihre beiden Vorhaben – eine Autofahrt allein nach Berlin und nach München – erleben wird.

Als sie ihren Nachbarn davon erzählte, dass sie allein zum Geburtstag ihrer Tochter nach Berlin fahren wird (sie hatte zuvor ihre Tochter noch nie irgendwo besucht), haben diese herzlich gelacht und sie mit den Worten aufgezogen: „Du schaffst es doch oft noch nicht einmal zum Einkaufen zu fahren.“

Horrorszenarien vor der Autofahrt? Von wegen!

Doch Christine hatte jetzt ihr Ziel klar vor Augen. Mentale Unterstützung aus der Familie gab es nicht. Stattdessen Horrorszenarien. Darauf hatte sie die Antworten: „Mein Auto geht kaputt, dann rufe ich den ADAC. Ich bekomme Panik, dann muss ich wohl den Notarzt rufen. Bei der Vorstellung von Letzterem muss ich grinsen. Ob das schon mal jemand gemacht hat?“ (Ja Christine, das hat schon mal jemand gemacht. Ich kann mich an diesen „Jemand“ noch gut erinnern und muss bei der Erinnerung heute laut lachen.)

Sie selbst wusste nur: So wie jetzt will sie nicht mehr leben. Nach 50 Jahren mit Angstzuständen wusste sie überhaupt nicht mehr, wer sie wirklich ist und was sie gerne macht. Also hat sie gar nicht darüber nachgedacht, was passieren könnte.

Vor Stolz in Berlin und München fast geplatzt

Im Schutz der Nacht wollte sie nach Berlin fahren, letztlich fuhr sie mitten am Tag los. Auch wenn die ersten 150 Kilometer furchtbar waren und sie dank Kommunikationsschwierigkeiten mit ihrem Navi 6 statt 3,5 Stunden brauchte: Sie zog es durch, stand am 1. April vor der Haustür ihrer Tochter in Berlin und platzte fast vor Stolz.

Funktioniert hat es, weil Christine keinerlei negative Gedanken von innen und außen zugelassen hat. Sie hat sich ausschließlich auf diesen wunderbaren Moment des Ankommens konzentriert und dieses Bild immer vor Augen gehabt und sich die ganze Zeit daran erfreut.

Mein Mutausbruch Olympiahalle

Sie haben ihr Ziel erreicht! Christine nach ihrer neunstündigen Fahrt vor der Olympiahalle.

Wenige Wochen später hat sie diese Taktik noch einmal mit Erfolg angewendet. Neun Stunden war sie allein nach München unterwegs. Angst hatte nur ihr Begleiter, ein 13 Jahre alter Hund. Christine selbst malte sich die ganze Zeit aus, wie ihre 32-jährige Tochter beim ersten Mariah-Carey-Konzert ihres Lebens in der Olympiahalle sitzt und weint. „Sie hat sogar schon vorher geweint“, berichtet Christine lachend.

Sie fühlte sich trotz der langen Fahrt fit. Das Erzeugen und Aufrechterhalten des positiven Gefühls ließ sie dieses Abenteuer ohne Probleme überstehen.

Nächstes Projekt ist schon in Planung

Nicht ohne Folgen: „Das hat etwas bewegt. Ich habe gemerkt, wie ich Ziele erreichen kann.“ Das nächste Projekt ist schon in Planung. Christine liebt Jose Carreras und hat beschlossen, im Oktober zusammen mit ihrer Tochter zum Konzert seiner letzten Welttournee in der Berliner Philharmonie zu gehen.

Sie weiß jetzt, dass sie sich ganz konkrete Dinge und Orte aussuchen muss, um dranzubleiben. Da wäre ja noch der lange Traum vom Leben im Wohnmobil – mit der Absicherung eines günstigen Jahres-Stellplatzes. „Ich bin auch noch nie geflogen. Das ist ebenfalls ein Thema“, sagt Christine.

Nachdem der mutige Anfang geglückt ist, hat sich Christine nun dazu entschlossen, ihr Einsiedlerin-Dasein zu beenden. “Auf deinem Blog konnte ich über so viele verschiedene Menschen lesen, so dass ich gemerkt habe, dass es viele Menschen gibt, die etwas anders ticken. Ich bin da gar nicht so alleine. Ich brauche vielleicht keine anderen Menschen, aber wenn es die richtigen sind, macht vieles mehr Spaß.”

Ich sage da nur: Go for it! Dieser Frau ist alles zuzutrauen. Möge der Mutausbruch für immer andauern …

Hast du auch schon mal etwas Verrücktes gewagt, was du dir selbst und auch sonst niemand zugetraut hätte? Wann hast du einmal der Angst ins Gesicht gelacht und gesagt: “Ich mach das jetzt trotzdem!”? Wenn ich auch deine Geschichte erzählen darf, dann schreib mir gerne an mischa@adios-angst.de – ich freu mich drauf!