Verdammt, der Einstieg in meinen heutigen Artikel fällt mir schwerer als je zuvor. Zu hin- und hergerissen bin ich nach meinen Erlebnissen auf der fünften Etappe der Mut-Tour 2015. Wie fasse ich unsere gemeinsame Tandem-Tour im Dienst der Öffentlichkeitsarbeit gegen die Stigmatisierung von depressiven Menschen zusammen, die uns zwei großartige Tage bescherte, dann aber technisch und emotional einen Tiefpunkt nach dem anderen zu bieten hatte?

Am besten damit: Ich bereue keine Sekunde auf der Mut-Tour. Wir hatten perfektes Wetter (heiße Tage, kühle Nächte), sind zum Abkühlen in Weiher, Seen und Flüsse gesprungen, haben wunderbare und hilfsbereite Menschen sowie engagierte Pressevertreter getroffen, haben uns auf traumhaften Übernachtungsplätzen leckere Sachen gekocht und viel miteinander gelacht.

Wer weiß, wie mein Fazit aussähe, wäre nicht eines unserer drei Teams am Nachmittag des zweiten Tages gestürzt (zum Glück hat sich niemand dabei verletzt). Die Lenkerstange trug einen Schaden davon, sodass wir bis um 14 Uhr des Folgetages ungeduldig warten mussten, ob das Problem mit Hilfe eines Schweißers zu beheben ist. Kaum hatte es das Okay zur Weiterfahrt gegeben, musste Tandem 3 endgültig aus dem Rennen genommen werden, da ein weiteres Teil am Lenker brach.

Gruppe gesprengt – Stimmung im Eimer

Die Folge: Stimmung am Tiefpunkt. Eine Teilnehmerin, die eh schon ihren Ausstieg angedroht hatte, fuhr nach Hause. Zwei Teilnehmer transportierten das kaputte Bike nach München, um es dort bei Bekannten unterzustellen und kamen mit dem Auto zurück. Die Gruppe war gesprengt und wir fuhren zu dritt auf 2 Tandems weiter.

Ab dann fühlte es sich nicht mehr wie unsere gemeinsame Mut-Tour an, sondern nur noch wie etwas, das man irgendwie in Würde zu Ende bringen sollte. Alle Beteiligten bemühten sich, die Laune trotzdem oben zu halten. Als wir aber abends um 21 Uhr – geplagt von wild gewordenen Mücken, genervt von der endlosen Warterei der vergangenen 24 Stunden und erschöpft vom Fahren in der Bruthitze – noch immer kein Nachtlager gefunden hatten, bin ich mental zusammengeklappt (meine Mitfahrerin auch).

Quasi in allerletzter Sekunde, bevor es stockdunkel wurde, organisierte unser Tourleiter noch einen Platz in einem herrlichen Anwesen direkt am Pilsensee. Genießen konnte ich das aber nicht mehr. Das Betteln in einer reichen Wohngegend um einen Platz für unsere 4 Zelte empfand ich als würdelos – vor allem, da einen Kilometer weiter ein Campingplatz gewesen wäre. Doch das Bezahlen für eine Übernachtung gilt bei der Mut-Tour als erklärtes “No Go”.

Ein guter Ansatz, wenn man nachmittags um 18 Uhr das Zielgebiet erreicht und die Bauern vor Ort in Ruhe fragen kann, ob man die Zelte auf ihren Grundstücken aufschlagen kann (ich finde Wildcampen übrigens wunderbar, wenn man seinen Platz rechtzeitig sucht). Aber nicht kurz vor der Dunkelheit mitten in einem Wohngebiet nach einem brutal anstrengenden Tag. Beim Abendessen gegen 23.15 Uhr habe ich dem Tourleiter geschildert, wie schlecht es mir mit der Situation geht, dass ich mir an solch einem Ausnahmetag wesentlich mehr Flexibilität von ihm gewünscht hätte und dass ich um diese Zeit eigentlich schon lange im Schlafsack liegen wollte, um meine Energiereserven aufzutanken. Daraufhin ist das Gespräch leider eskaliert.

Wir haben uns aber am nächsten Tag soweit zusammengerauft, dass wir die Räder noch zügig die letzten 50 Kilometer nach München überführt haben. Ziel erreicht, aber mit ziemlich gemischten Gefühlen.

Mut-Tour Zeltplatz

Ein Traummorgen im Allgäu.

Meine Erkenntnisse aus der Mut-Tour

So weit also meine Kurzversion der 4 Tage mit 5 Wildfremden auf 3 Tandems. Aus der Mut-Tour habe ich einige Erkenntnisse für mich gezogen:

  • Ich habe die Tour bis zum Ende durchgezogen, worauf ich stolz bin. Früher hätte ich bei ähnlich gelagerten Problemen die Flucht angetreten.
    Lehre 1: Ich kann unangenehme Situation aushalten, meine Gefühle klar äußern und für meine Bedürfnisse einstehen.
  • Meine körperliche Fitness ist richtig gut. Eine Woche zuvor hatte ich eine kleine Krise, ob ich die Strapazen (Hitze, sehr hügelige Landschaft, schwer bepacktes Tandem) aushalten werde. Die Realität: null Muskelkater, null Hinternweh und weit entfernt von Kurzatmigkeit.
    Lehre 2: Ich kann meinem Körper noch mehr zutrauen. Und die ängstlichen Zeiten mit bangem Blick auf den Pulsmesser sind lang vorbei.
  • Mich auf etwas komplett Neues einzulassen, hat mir überraschend positive (laut singend und lachend auf dem Tandem) und überraschend negative (offener Streit am letzten Abend) Erlebnisse beschert.
    Lehre 3: Meine Neugierde aufs Leben bringt mich in meiner persönlichen Entwicklung immer ein Stück weiter.
  • Tage, an denen ich komplett an eine Gruppe gefesselt bin, und keine Rückzugsmöglichkeit habe, kosten mich mehr Energie, als ich durch das positive Gruppenerlebnis bekomme.
    Lehre 4: Ich unternehme nur noch Dinge, bei denen ich zumindest einmal am Tag Zeit für mich, Meditation oder ein kleines Nickerchen habe.
  • Das Konzept der Mut-Tour, gemeinsam beim Sport an seine Grenzen zu stoßen, geht auf. Solche Anstrengungen würden sich viele Teilnehmer auf eigene Faust bestimmt nicht zutrauen.
    Lehre 5: Ich versuche öfter, Sport mit anderen zu machen, um das Quäntchen mehr aus mir herauszukitzeln. Beim Surfkurs im Vorjahr ist das schon gut gelungen.
  • 5 Pressekontakte an 4 Tagen (zum Teil bedingt durch unsere Pannenserie) waren mir für ein Öffentlichkeits-Projekt zu wenig.
    Lehre 6: Je öfter du mit demselben Projekt/Anliegen am selben Ort vorbeikommst (bei uns war es das dritte Mal), desto geringer die Chance auf einen (ausführlichen) Pressebericht.
  • Wer um Hilfe fragt, bekommt (meistens) Hilfe. Egal, ob du Menschen bittest, bei ihnen deine Wasserflaschen auffüllen, aufs WC gehen oder sogar auf ihrem Grundstück übernachten zu dürfen.
    Lehre 7: Mein Schicksal öfter mal für kurze Zeit in die Hand anderer Menschen zu legen, ist ein weiterer Schritt aus der Komfortzone. Bei einer längeren Tramp-Tour, die auch auf meiner Bucketlist steht, will ich das weiter vertiefen.
  • Wenn du mit drei Tandems und einer wild zusammen gewürfelten Truppe unterwegs bist, fällst du automatisch auf. Genauso, wie wenn du in Radklamotten durch Brunnen rennst oder in die Isar springst. Lehre 8: Aus dem Strom der gleichförmigen Masse herauszustechen, macht Spaß. Ob das peinlich ist? Von wegen!
  • Bin ich ein Alpha-Tier? Anscheinend ja, weil ich öfter für meine Wünsche und die meiner (nicht ganz so vorlauten) Mitfahrer eingetreten bin, auch wenn sich diese nicht mit den Ideen des Tourleiters gedeckt haben.
    Lehre 9: Unter diesen Umständen bin ich gerne ein Alpha-Tier. Nur dass die Mut-Tour augenscheinlich keine zwei Alpha-Tiere verträgt.
  • Die große Mut-Tour 2016 (hier werden Etappen von 10 bis 12 Tagen gefahren) kommt für mich nicht in Frage.
    Lehre 10: Wenn ein an sich absolut unterstützenswertes Projekt meinen ganz persönlichen Praxistest nicht besteht, ziehe ich bewusst meine Konsequenz daraus.

P.S.: Nichtsdestotrotz war die Mut-Tour eine wunderbare und wertvolle Erfahrung für mich, die ich nicht missen möchte. Danke an meine lieben Mitfahrer Daniel (Verkehrssschild-Profi mit den Turbo-Wadeln), Jutta (schwäbische Küchenchefin mit Faible für Obschd), Peter (politisch-moralische Instanz mit Hang zu Slapstick-Einlagen), Andrea (so schön gschert kann Oberbayerisch sein) und Sebastian (rastloser Weltumradler und Erfinder des Tandem-Multitaskings).

Welche Gruppenerfahrung hast du schon auf Reisen gemacht? Bist du gern mit mehreren Leuten unterwegs oder machst du lieber dein eigenes Ding bzw. bist am liebsten nur mit deinem Partner auf Tour? Ich freue mich auf deinen Kommentar!