Lebe ich mein Leben? Was heißt es überhaupt, dieses “Mein Leben leben”? Ist das gleichbedeutend mit “Meine Leidenschaft finden”, “Einen Unterschied machen”, “Kompromisslos meinen Weg gehen”? Also all die Dinge, für die es heutzutage auf gefühlt Trilliarden Ratgeberseiten gefühlt Milliarden Tipps zur schnellen Umsetzung gibt und auf die gefühlt Millionen Leser geantwortet haben: “Wenn es denn nur so einfach wäre …”

Lebe ich mein Leben? Keine Ahnung.

Ich hatte zumindest in den vergangenen 7 Tagen ziemlich viel Zeit, darüber nachzudenken. So zwischen Fierberattacken, Hustenanfällen, nicht enden wollenden Muskelschmerzen, apathischem vor-mich-hin-Starren, Inhalieren, Nasespülen, Tee trinken und Nudelsuppe essen. Und immer wieder die Frage: Wenn ich wirklich das zu mir passende Leben führen sollte – wie kann es dann sein, dass mir eine Grippe so dermaßen heftig den Boden unter den Füßen wegzieht?

Ich meine, hej, ich wäre der Traumkandidat für die “So kommen sie gesund durch den Winter”-Seite der Apotheken-Umschau. Ich mache jeden Morgen Yoga und meditiere, ernähre mich gesund mit heimischem, regionalem Biogemüse, trinke kaum Alkohol, bin jeden Tag mindestens eine halbe Stunde draußen (meistens länger), mache zweimal die Woche Sport, gehe in die Sauna, lege mich nach jedem Mittagessen 20 Minuten hin, habe keine cholerischen Chefs, sondern sehr angenehme Auftraggeber, schaue immer darauf, dass ich genug Erholungsphasen bekomme.

Gut, eine Grippe kann einen ja mal erwischen. Muss aus meiner Sicht zwar nicht gleich Influenza mit schwerer Bronchitis sein. Aber geschenkt. Was mich so nachdenklich macht: Seit Herbst gab es da noch zwei normale Erkältungen und eine Magenentzündung. Und das ist nicht mehr normal.

Das mag für Menschen normal sein, die alles auf die Karte “Karriere, Stress und seine Folgen” setzen. Die sich deshalb gar keine Gedanken mehr drüber machen, wie viele Antibiotika, Magenmittel und sonstige Leckereien aus der Pharmaküche sie sich ständig reinpfeifen müssen, damit sie sich weiter in die Arbeit schleppen können.

Ich habe aber bewusst einen anderen Weg gewählt. Habe mir vor knapp 3 Jahren geschworen, dass physische und psychische Gesundheit DER Wegweiser in meinem Leben sein wird und muss, nach dem sich alles ausrichtet – und nicht mehr der Kampf ums Geld, ums Prestige, ums Dazugehören um jeden Preis.

Doch die Zweifel nagen an mir. Was ist los? Was will mir mein Körper denn sagen? Wenn ich in der Theorie nicht krank werden dürfte, es praktisch aber die ganze Zeit bin, dann läuft irgend etwas unrund. Dem will ich nun auf die Schliche kommen.

Mein Leben leben – aber wie?

Ich habe zwei Thesen aufgestellt, was die Ursachen für meine Phase des Haderns und Kränkelns sein sein könnten.

These 1: Im Grunde genommen lebe ich schon das passende Leben, vergleiche mich aber noch viel zu oft mit anderen und ziehe mich dadurch runter. Deshalb denke ich dauernd, dass alles noch schneller, leichter, besser funktionieren müsste, wenn ich nur endlich mit dem Zweifeln an meiner eigenen Größe aufhören und mal so richtig in die Puschen kommen würde (Boah, hasse gesehen, wie X durchgestartet ist und welche super neuen Kurse Y schon wieder auf den Markt geworfen hat?).

These 2: Ich mache mir vor, dass ich das zu mir passende Leben führe, auch wenn ich in den vergangenen Jahren einige wichtige und richtige Stellschrauben gedreht habe. Aber um wirklich glücklich und gesund zu sein, müsste ich noch viel radikaler und kompromissloser an gewisse Dinge herangehen und mich noch viel mehr auf unerfüllte Träume stürzen, anstatt so viel Zeit im Home-Office plattzusitzen.

Tja, was isses denn nun? Wahrscheinlich von beidem etwas.

Für These 1 spricht, dass ich mir mit dem Schritt in die Selbstständigkeit und der Möglichkeit des ortsunabhängigen Arbeitens die ideale Grundlage für ein Leben nach meinen Wunschvorstellungen geschaffen habe und im Kern nichts daran ändern möchte.

Für These 2 spricht, dass auf meiner Bucketlist noch zu viele wichtige Punkte draufstehen, als dass ich so viel Zeit im heimischen Büro verbringen sollte. Dabei geht es nicht darum, anderen etwas zu beweisen oder auf Teufel komm raus viele Dinge zu erleben. Sondern einfach um die Feststellung, wie mein Gesundheits- und Gefühlszustand während meiner Europatour war.

Ich fühlte mich frei, unbesiegbar. Meiner Lunge ging es blendend, weil ich immer am Meer war. Ich hatte kein Gerstenkorn am Auge (das war vorher da und ist danach zurückgekehrt), keine Hautkrankheit namens Rosacea. Das alles sind unübersehbare Hinweise darauf, dass mein Lebensstil damals viel besser für meine Gesundheit war als es mein aktueller ist.

Was heißt das jetzt konkret?

Wie du siehst, stelle ich heute ziemlich viele Fragen. Vielleicht sind es noch nicht die richtigen, weil bisher das Aha-Erlebnis des selbsttherapeutischen Schreibens ausgeblieben ist.

Eine erste Konsequenz aus meiner Situation ist, dass ich nach zwei Jahren Pause wieder zu meinem Psychotherapeuten gehen werde. Weil das ein prima Typ ist, der auch sonntags in seine Mails schaut, habe ich gerade während des Schreibens einen Termin ausgemacht (okay, ein kleiner Verstoß gegen meine Achtsamkeits-Prinzipien).

Ist das ein Rückschritt? Nein, ganz im Gegenteil. Für mich fühlt es sich sehr leicht und stimmig an. Ohne die Hilfe großartiger Therapeuten wäre ich nicht da, wo ich heute bin. Was gibt es Besseres, als sich in die Hände von Menschen zu begeben, die auf dem Gebiet Experten sind und zu denen ich Vertrauen habe?

Vielleicht gehören Phasen wie derzeit einfach zu meinem “neuen” Leben dazu, weil ich viel mehr in mich hineinhorche als früher. Weil ich nicht mehr so leicht zufrieden bin, weil ich ganz andere Ansprüche an mich und mein Leben habe. Und weil es keinen vorgefertigten Weg mehr gibt zwischen Bürojob und 6 Wochen Urlaub im Jahr.

Mein Leben leben heißt für mich, solange nicht nachzulassen, bis ich noch mehr Klarheit darüber habe, welche Faktoren mich wirklich und dauerhaft voranbringen. Und wenn der doofe Husten dabei irgendwann mal wieder verschwindet, nehme ich das auch gerne mit.

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