Du bist ein Mann? Und hast trotz der Überschrift nicht schnell weggeklickt? Danke, das freut mich und macht mir Hoffnung. (Dass ihr, meine lieben Leserinnen, den Artikel gerade wegen der Überschrift lest, weiß ich ja).

Ich kenne nämlich viele Männer, die lieber 10 Löwen gleichzeitig bekämpfen würden, als – zumindest in der Öffentlichkeit – auch nur eine Träne zu vergießen – geschweige denn ihre Zeit Texten zu widmen, die mit “Warum Männer öfter weinen sollten” betitelt sind.

Früher war es bei mir ähnlich. Ich habe mir das Weinen zwar nicht verboten. Aber ich fand Tränen – gerade in der Öffentlichkeit – schon ein bisschen peinlich.

So habe ich immer versucht, sie so gut es geht zu unterdrücken, zum Beispiel auf Beerdigungen. Das Auge wird feucht? Na dann schnell drüberwischen oder Schnupfen vortäuschen und schnell wieder Haltung bewahren.

Was ich dabei nicht bedacht habe: Tränen sind ein extrem wichtiges Ventil. Sie auszubremsen, führt zu einer Distanzierung von den eigenen Gefühlen und zu einem gewissen Grad auch zu einer seelischen Verhärtung.

Durchs Tanzen zu den Gefühlen finden

Welche Brocken sich bei mir im Lauf der Zeit angesammelt hatten, habe ich erst bei meinem Klinikaufenthalt gemerkt. “Tanz der Gefühle” heißt die Therapiemethode, die allein aufgrund der beiden Wörter “Tanz” und “Gefühle” bei einigen männlichen Mitpatienten schon zur Verweigerungshaltung führte.

Kurz erklärt funktioniert das so: Gute zwei Stunden verausgaben sich die Teilnehmer tanzend in einem Raum, der mit zunehmender Zeit immer dunkler und heißer wird. Im Anschluss folgen Übungen, die aus den Tänzern ihre ganze Wut und Traurigkeit herauskehren.

Bei mir führte das dazu, dass ich minutenlang von Weinkrämpfen richtig durchgeschüttelt wurde. Gleichzeitig habe ich eine riesige Befreiung gespürt, wie wenn ein paar dicke Fesseln von meiner Seele gesprengt worden wären.

In diesem Moment bin ich endlich (wieder) bei meinen tiefsten Gefühlen angelangt. Ich habe gespürt, was mir vorher gefehlt hat – ohne zu merken, dass es mir fehlt.

Mir ist bewusst geworden, dass ich auf diesem Weg endlich Zugang zu mir selbst und meinen tiefsten Bedürfnissen gefunden habe. Seitdem weiß ich: Wer dort angekommen ist, kann wesentlich besser reflektieren und bringt zugleich viel mehr Herzensgüte in den Umgang mit anderen hinein.

Ich bin aufgrund meiner Erfahrung der festen Überzeugung: Wer sich das Weinen nicht verkneift, findet Zugang zu seinen tiefsten Gefühlen. Und wer den gefunden hat, wird künftig öfter weinen.

Also nicht mehr nur dann, liebe Männer, wenn der Lieblings-Fußballklub abgestiegen oder Meister geworden ist. Sondern auch mal in mehr oder weniger alltäglichen Situationen.

An mir konnte ich in den vergangenen zwei Jahren zum Beispiel beobachten, dass mir in besonders glücklichen Momenten ein paar Freudentränchen in die Augen steigen. Oder wenn mir jemand besonders liebevolle oder rührende Worte sagt oder schreibt. Und auch, wenn ich erfahre, dass jemand sich etwas getraut hat, vor dem er immer weggelaufen ist oder sonst etwas ganz Wichtiges für seine persönliche Entwicklung geschafft hat.

Das kannte ich früher nicht. Aber so fühlt es sich für mich so richtig nach Leben an. Intensiv und nicht nur an der Oberfläche der Beliebigkeiten kratzend.

Ich schäme mich nicht mehr, wenn ich weine

Die Tränen der Trauer gehören natürlich genauso dazu. Der Anlass dafür ist kein schöner, immens wichtig sind sie aber trotzdem.

So habe ich es vergangene Woche erlebt, als mein wunderbarer, geliebter Patenonkel gestorben ist. Als ich die Nachricht erfahren habe, haben mich einige Leute weinen sehen. Genauso wie auf dem 20-minütigen Fußweg vom Büro nach Hause. Aber das war absolut okay für mich und fühlte sich richtig an.

Zwei, drei Tage lang hat es mich immer wieder durchgeschüttelt und ich weiß im Nachhinein, dass es wichtig war, diesen Trauerprozess so intensiv zu durchleben, um die Nachricht zu verarbeiten.

Bei der Trauerfeier nächsten Montag werde ich eine Rede halten. Keine Ahnung, ob ich das schaffe, wie weit ich komme oder ob mich die Tränen wieder überwältigen. Aber egal – ich schäme mich endlich meiner Tränen nicht mehr.

Zusammengefasst kann ich sagen: Ich weine gerne – und lache noch viel mehr. Mein Leben hat durch den intensiven Zugang zu meinen Gefühlen an Tiefe gewonnen. Vielleicht ist es auch jetzt erst ein richtiges Leben? Auf alle Fälle fühlt es sich so verdammt gut an.

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