Heimatlos. Lost. Fucked up.

Es ist Anfang September 2019 und ich irre mit meinem Kastenwagen im Oberallgäuer Voralpenland herum. Kann gerade keinen klaren Gedanken mehr fassen. Meine Frau und ich gehen seit ein paar Tagen getrennte Wege. Keiner weiß, für wie lange oder ob für immer.

Erster Wohnsitz Wohnmobil. Was habe ich es sonst gefeiert, länger allein unterwegs zu sein und im Wagen zu schlafen. Jetzt muss ich. Fühlt sich nicht mal einen Bruchteil so geil an. Gefühlt fliegt mir gerade mein Leben um die Ohren.

Doch da ist dieses eine Mantra:

Om Asato ma Satgamaya

Tamaso ma Jyotir gamaya

Mrityor ma Amritam gamaya

Ich habe es auf Endlosschleife eingestellt. Wieder und wieder singe, nein schreie ich es in meinem Schmerz hinaus. “Führe mich vom Unwirklichen zum Wirklichen, von der Dunkelheit zum Licht, von der Sterblichkeit zur Unsterblichkeit!”, lautet eine der möglichen Übersetzungen.

Meine Übersetzung lautet gerade: Was bitteschön soll der ganze Scheiß? Und wenn es schon so weh tut, wofür wird die momentane Situation einmal gut sein? Kann ich von irgendwoher mal ein Zeichen bekommen, dass gerade alles richtig ist, auch wenn es sich noch so falsch anfühlt?

Tiefste Lebendigkeit mitten im heftigsten Schmerz

Doch da ist nicht nur das Mantra, das mich hält und mich im freien Fall auffängt. Da ist diese tiefste Lebendigkeit, die ich mitten im heftigsten Schmerz spüre.

Oder besser gesagt: Es fühlt sich extrem lebendig an, den Schmerz da sein zu lassen. Nicht wie früher: wegrennen, Kopf einziehen, mit Alkohol betäuben. Sondern stehen bleiben. In der Hitze des Feuers. Und all das wegbrennen lassen, was nicht mehr zu mir gehört.

Nein, was gerade mit mir passiert, steht in keinem Feel-Good-Ratgeber und “20 einfache Wege zu dauerhaftem Glück”-Buch. Und doch fühlt es sich so richtig an.

Wellen der Ohnmacht wechseln sich ab mit gigantischen Energieschüben. Jetzt weiß ich endlich WIRKLICH, was “Fühl deine Gefühle heißt.” Krasse Erfahrung.

Ich komme mir vor wie der größte Depp der Welt und wie der König von Deutschland. Gleichzeitig. Sollte ich mir jetzt Sorgen um mich machen?

Die Suche nach Glück führt ins Unglück

In dieser Ausnahmephase letzten Spätsommer habe ich bis in die letzte Zelle gespürt: Es geht im Leben nicht um Glück, es geht um Lebendigkeit.

Machen wir Lebendigkeit zum obersten Ziel, könnten wir uns genau genommen jede Sekunde feiern. Streben wir Glück an, bleiben uns leider nur die flüchtigen Momente und verheddern uns in dem alten “Gut-Böse”- und “Will ich-will ich nicht”-Spiel.

Mit Freunden und einer Buddel Schampus am Strand Sonnenuntergang schauen? Will ich. Gut! Allein an einem kalten Abend um 22 Uhr tränenüberströmt bei Vollmond auf die Knie sinken und flehen, dass der ganze Schmerz doch seinen Sinn haben möge? Will ich nicht! Böse!

Wie wäre es, die ermüdende und langweilige Suche nach dem Glück aufzugeben (im Übrigen wahrscheinlich die größte Ursache von dauerhaftem Nicht-Glück) und stattdessen zu sagen: “Ja, dann ist das jetzt halt so. Ja, dann bin ich gerade lost und fucked up. Ja, dann scheiße ich mir gerade vor Angst in die Hose, dass ich bald pleite bin und damit mein Leben ganz sicher ein jähes Ende nimmt.”

Wie wäre es, das Chaos genauso zu feiern wie die “Sonne scheint mir aus dem Allerwertesten”-Tage? Und die Kraft, die dadurch entsteht, dass du das Leben annimmst, wie es eben gerade ist – und aufhörst zu kämpfen?

Scham kann ein Begleiter von Lebendigkeit sein

Du kennst wahrscheinlich auch Menschen, deren Gefühlspalette von gut bis schlecht reicht. Ohne Zwischenstufen.

Dabei entsteht eine vollkommen verzerrte Wahrnehmung von gut und schlecht. Gut ist in den Augen der meisten Menschen alles, was möglichst komfortabel zu uns kommt, was uns kurzzeitig kickt. Was sich sofort und ohne Umwege super-duper anfühlt.

Dummerweise fühlt sich das, was uns dauerhaft nach vorne bringt und uns lebendig hält, nach der Standard-Definition erst einmal schlecht an: Dinge, für die wir auch mal an unsere Grenzen gehen dürfen, Veränderungen, die uns Angst machen. Und überhaupt dieses ganze zwischenmenschliche Gesumms, anderen Menschen die eigenen Gefühle zu offenbaren. Oder sich vor anderen zu exponieren, für sich, seine Lebendigkeit, seine Wahrheit oder auch sein eigenes Business in der Öffentlichkeit einzustehen.

Das sind allesamt große Zeichen von Lebendigkeit. Ja, sie können Schmerz oder Scham auslösen.

Ich weiß, wie es sich anfühlt, als 1,87 Meter-Hackstock als Erster bei einem Konzert mit 800 Menschen im Rücken aufzuspringen und ungelenk auf dem Gang zu tanzen. Doch hinter dem Vorhang der Scham, die immer einen kurzen Moment da ist, lauert die Freiheit.

Wieder mal Grund zum Feiern: Ich bin da! Ich will das Leben kennenlernen! Ich kneife nicht.

Zwischen Zombie-Walk und Besäufnis – ist das Lebendigkeit?

Sind wir mal ehrlich: Tief in jedem von uns steckt diese riesige Sehnsucht nach echter Lebendigkeit. Wir würden am liebsten den ganzen Tag etwas Neues ausprobieren, uns im Matsch oder Schnee wälzen, anderen Menschen mal ganz unverblümt sagen, wie wir sie gerade erleben, rumschreien, tanzen, lustige und sinnlose Dinge erzählen, neue Wörter erfinden, Dinge tun, vor denen wir Schiss haben, einen Fremdem umarmen oder einfach mal komplett durchdrehen vor Freude (oder vielleicht auch mal vor Wut).

Wir wären so gern die Kinder, die wir so gern gewesen wären.

Doch halt, das geht ja gar nicht! Weil wir gar nicht wissen, wie es geht. Weil uns schon so frühzeitig erfolgreich ausgetrieben wurde, zu lebendig zu sein. Hier mal mehr, dort mal weniger.

Deshalb sind wir als Gesellschaft so unlebendig, dass wir es nicht mal mehr merken. Kollektive Deprimiertheit als Statussysmbol.

Ein paar Mal im Jahr sitze ich im Pendler-Frühzug nach München. Und amüsiere mich jedesmal über den morgendlichen Zombie-Walk meiner Mitreisenden von der U-Bahn in die Büros der Großstadt. Die Maximierung von Betäubung, Getrenntsein und schlechter Laune.

Würde ich jetzt jemanden ansprechen und nach Lebendigkeit fragen, bekäme ich wahrscheinlich zur Antwort: “Ja klar fühl ich mich auch manchmal lebendig! Wenn ich am Feierabend super Netflix-Serien schaue, es bei den Partys am Wochenende krachen lasse und im Urlaub.”

Zwischendrin ist Überlebensmodus angesagt.

Die größte Falle: Das als normal anzusehen. Und uns dafür falsch zu halten, wenn sich unser Körper, unser ganzes System dagegen wehrt und uns mit Symptomen wachrüttelt, die wir am liebsten gleich wieder weghaben wollen.

Rebellion – sehr gesund und lebendig

Um für mich das Thema noch klarer zu bekommen, hat mir die Sichtweise von Körperforscherin Ilan Stephani mehr geholfen als alles andere bisher: Lebendigkeit sei, wenn alles in uns rebelliert. Gegen das rebelliert, was in Wirklichkeit nur eine Form von Unlebendigkeit ist, hat sie sinngemäß in einem Interview gesagt. Also Rebellion gegen all das Anpassen, Wegducken, Mitlaufen, Gefallenwollen, Harmoniesucht, die Sucht nach dem nächsten kurzen Kick und die dauernde Betäubung.

Bist du auch so ein Rebell? Weißt du oder spürst du tief innen, dass das gesellschaftliche Spiel, wie es als allgemein “normal” angesehen und von den meisten ohne großes Nachdenken gespielt wird, nicht zu dir passt? Ja, hat es dich möglicherweise sogar krank gemacht? Eine sehr gesunde Reaktion.

Als ich diesen Punkt vor 7 Jahren verstanden habe, war das der größte Schlüssel auf dem Weg in die Freiheit. Wenn es Dinge gibt, gegen die sich mein Körper wehrt, ist es meine Aufgabe, andere Wege als bisher zu beschreiten. Sicherheit und Kontrolle musste ich dafür abgeben, dafür bekam ich Lebendigkeit, Mut und neues Vertrauen im Überfluss.

Ob Voll-Honk oder Horst: Hauptsache lustig

Wenn wir das einmal verinnerlicht haben, können wir nicht mehr so weitermachen wie bisher. Ein bisschen von Lebendigkeit träumen und trotzdem fleißig alle alten Muster bedienen, brav sein, still sitzen, uns anpassen, den Mund halten.

Damit geht es dir auf Dauer noch schlechter, als wärst du immer noch im Dauerkoma mit der Überschrift “Mein Leben wäre doch eigentlich ganz gut, wenn nicht …” Sobald du einmal gespürt hast, dass das Leben auch noch ganz andere Intensitäts-Stufen parat hält, kannst du nicht mehr weitermachen wie bisher.

Du kannst deine Lebendigkeit nicht dauerhaft unterdrücken, ohne dass sie dir sehr lebendig um die Ohren fliegt.

Und Lebendigkeit heißt eben nicht, nur fröhlich pfeifend barfuß am Strand zu laufen. Lebendigkeit heißt Präsenz für das, was dein Körper gerade will oder was vielleicht gerade aus deinem Mund heraussprudeln will – egal, ob das jetzt gerade doof, peinlich oder total unpassend ist.

Lebendigkeit heißt im besten Fall, das zu tun, was wirklich alle um dich herum in dem Moment als absolut bescheuert und unpassend empfinden. Lebendigkeit kann heißen, sich zum Voll-Honk zu machen.

Wie ich Lebendigkeit definiere und wo du Lebendigkeit erleben kannst

Zu meiner Definition von Lebendigkeit gehören alle diese Punkte: körperlich sein, Quatsch machen, flexibel, spontan, verrückt und abenteuerlustig sein. Bereitschaft, die Dinge mit Humor zu sehen. Allen Dingen im Leben einen Sinn anzuerkennen, selbst wenn sie einem zuerst noch so sinnlos erscheinen und sich den Wundern des Lebens öffnen. Sich die ganze Bandbreite von Gefühlen erlauben. Sich auch mal zum Horst machen und dazu stehen. Die Erlaubnis für Stille und tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen bzw. der ganzen Schöpfung. Widerständen mit einem “Jetzt erst recht!” begegnen, den eigenen Ängsten stellen und sichtbar sein, mit all dem, was einen Menschen ausmacht.

Vieles gelingt mir inzwischen automatisch, bei einigen Sachen darf ich immer wieder üben. Auch bei meinen Lesungen und Seminaren, bei denen ich stets Lehrer und Schüler zugleich bin (wie wir übrigens alle in unserem ganzen Leben – daran dürfen wir uns jeden Moment erinnern).

Ich liebe es, dabei immer mehr Menschen zu begegnen, die sich mutig austesten und ihre Lebendigkeit Stück für Stück zurückholen – auch wenn’s dabei manchmal holpert oder Onkel Alfred einen deshalb doof findet.

P.S.: Wenn du jetzt denkst: Wieso heißt das nächste Mut-Camp “Klang & Stille”, (27. bis 29. März im Taunus) darf ich dir versprechen: Das wird lebendiger, als du es dir ausmalen kannst. Stille kann nämlich ganz schön laut sein 😉

P.P.S.: Meine Frau und ich sind wieder zusammen. Ich muss im Winter nicht im Wohnmobil schlafen. Danke, dass du bis hierher gelesen hast.