Alleinreisen Panik

Keine Panik: Es folgt jetzt kein Plädoyer von mir, für ein halbes Jahr mit dem VW Bus allein in der Weltgeschichte umherzugondeln. Oder drei Monate allein nach Australien zu fliegen. Nicht, dass dies nicht schon genug Menschen ausprobiert hätten – und vermutlich es die meisten auch richtig gut fanden.

Aber ich denke, für den Anfang reicht es schon einmal, sich nur mit dem Gedanken anzufreunden: “Was wäre, wenn ich einmal allein verreise?”. Ja, ich kenne die Standard-Antwort: “Ich könnte das schon, aber das will ich gar nicht.” Da entgegne ich jedem, der es noch nicht ausprobiert hat: “Nein, du traust es dich nicht.”

Fang mit einer kleinen Dosis an!

Denn es gehört schon etwas Mumm dazu, allein loszuziehen. Für manche ist es eine Mutprobe, zwei Jahre mit dem Rad durch die Welt zu fahren. Für andere schon, mal ein Wochenende allein in Hamburg zu verbringen.

Nach meiner Erfahrung lohnt sich das Experiment zu 100 Prozent – und wenn du dir dafür zum Start auch nur einmal eine ganz kleine Dosis des Alleinseins verabreichst. Für meine Tour habe ich beispielsweise im Herbst und Winter 2013/2014 zwei Testläufe von jeweils ein paar Tagen in Deutschland gestartet. Und war hinterher hellauf begeistert.

Ich verspreche dir, dass du davon profitieren wirst. Für notorische Angsthasen, wie ich es früher war, eine besonders gute Übung. Denn du wirst Erfolgserlebnisse haben, dein Selbstvertrauen stärken und zusätzlichen Mut gewinnen, um kommende Herausforderungen anzugehen. Warum das so ist, erkläre ich dir.

#1 Du verlierst die Angst vor dem Alleinsein

Aus eigener Erfahrung kann ich berichten: Angstpatienten können nur sehr schlecht allein sein. Die Furcht, dass niemand da ist, wenn einem etwas zustößt – natürlich unbegründet, denn Panikattacken sind zwar unschön, aber gesundheitlich unbedenklich – ist immer vorhanden. Es gibt ungelogen Angstpatienten, die in direkte Nähe von Krankenhäusern ziehen, damit sie im Fall der Fälle versorgt sind (so schlimm war es bei mir zum Glück noch nicht ganz).

Oft bestehen Abhängigkeiten von Partnern, Familienmitgliedern oder Freunden – oder es geht einfach nur darum, durch die Anwesenheit anderer abgelenkt zu sein. Und nun kommt die spannende Erkenntnis: Weder bei einem langen Spaziergang allein um einen See in Mecklenburg-Vorpommern noch beim Schlendern über einen Markt in Hamburg wirst du tot umfallen oder Hilfe benötigen. Vielleicht schlägt dein Herz schneller, aber das darf es ja auch vor Aufregung.

Am Ende stellst du fest: Du bist nicht auf die Anwesenheit deines Partners oder von Freunden angewiesen. Schön, wenn sie da sind. Nicht schlimm, wenn nicht.

#2 Du lernst, mit dir zurechtzukommen

So, nun bist du also allein in dieser fremden Stadt – oder sogar in diesem fremden Land. Was nun? Niemand steht dir zur Seite, keiner macht eine Ansage, was zu tun ist, das heimische Sofa samt Fernbedienung ist weit weg. Plötzlich liegt das Programm in deinen eigenen Händen. Welchen Sender stellst du ein?

Viele Menschen wissen doch vor lauter täglichem Trott gar nicht mehr, was sie wirklich antreibt, für was sie brennen. Dinge, die sie früher geliebt haben, wurden “aus Zeitmangel” schon lange aufgegeben. Aber jetzt stehst du hier allein und kannst auf deine innersten Bedürfnisse hören und ganz spontan darauf reagieren.

Lass ich einfach überraschen von dir selbst, wo es dich hintreibt, was du machst, was du erleben willst. Im Kino einen Film in einer fremden Sprache anschauen? An der Alster joggen (ja, ich liebe Hamburg)? In einen Club mit Livemusik? Oder die angeseilte Tour über das Dach des Münchner Olympiastadions?

In meinem Fall auf der Europatour waren es – man höre und staune – Andachten und kleine Kirchenkonzerte. Vor der Fahrt stand das sicher auf keiner gedanklichen Liste bei mir. Doch dann war ich gut ein halbes Dutzend Mal bei solchen Veranstaltungen verschiedener Konfessionen, habe die teilweise sehr berührenden Momente auf mich wirken lassen und mich jedesmal aufgehoben gefühlt.

#3 Du entdeckst, welche Menschen wirklich zu dir passen

Daheim ist alles eingespielt. Da ist dein Freundeskreis, dann kommt noch der von deinem Partner dazu, plus Familie und Nachbarn. Einige Beziehungen davon sind super und unersetzlich. Andere, oft mal auch zu viele, werden halt so aufrecht erhalten, weil es schon immer so war – auch, wenn es vielleicht gar nicht mehr zu deiner Lebensrealität und deinen Einstellungen passt. Manchmal merkst du es auch gar nicht.

Bist du allein unterwegs, bekommst du ein viel besseres Gespür für die Menschen. Losgelöst von den sonstigen Ansprechpartnern werden deine Antennen geschärft. Du merkst nach einer Weile, auf wen es sich lohnt zuzugehen. Ich verspreche dir: Du wirst ganz intensive und überraschende Begegnungen und Gespräche haben. Wenn du dich darauf einlässt und dich nicht in der fremden Stadt 24 Stunden in deinem Hotelzimmer verkriechst.

Meine irrste Begegnung diesbezüglich war mit Horst, einem freiwilligen Obdachlosen Ende 50, den ich in Hamburg auf einem Weihnachtsmarkt getroffen habe. Er hat vor zwei Jahren seine Zimmerei-Firma in der Nähe von Stuttgart verkauft, sich aus Holz eine Transporthilfe für seine wenigen Dinge gebaut und ist dann in Hamburg gelandet, wo er sich wohlfühlt.

Er könnte sich jeden Tag ein Hotelzimmer leisten, lebt aber lieber auf der Straße. Wir haben uns zwei Stunden großartig unterhalten und festgestellt, dass unser Treffen kein Zufall gewesen sein kann. Und er hat zu mir gesagt: “Ich wünschte, ich wäre schon so früh aufgewacht wie du.”

#4 Du meisterst Herausforderungen – dein neuer Turbo-Boost

Das ist der entscheidende Punkt. Nirgendwo lernt man besser, das Leben zu verstehen und im Leben zu bestehen, als beim Reisen. Beim Alleinreisen potenziert sich dieser Effekt. Denn – ob du willst oder nicht – du musst alle Entscheidungen selbst treffen, alle Probleme selbst lösen, alle Gespräche selbst führen, den Weg immer selbst finden, die Menschen immer selbst ansprechen.

Das kann am Anfang schon mal ganz schön hart sein. Und unbequem. Aber Dinge, die dich im Leben weiterbringen, erlebst du einfach nur außerhalb der Komfortzone. Und so wirst du das alles tun, weil dir gar nichts anderes übrig bleibt. Wirst die Herausforderungen meistern, wer soll es auch sonst tun. Und wirst am Ende des Tages, der Woche, des Monats, der Reise (je nachdem) immer wieder mächtig stolz auf dich sein.

Du wirst dir im Alltag daheim viel mehr Dinge zutrauen und den Mut finden, weitere Herausforderungen anzupacken. Du wirst vielleicht frecher, spontaner, gelassener, toleranter, oder was auch sonst du aus der Reise mitgenommen hast. Und wenn es nur ein Riesenkater ist, weil du allein mal eine Nacht auf dem Kiez so richtig einen draufgemacht hast.

Das Fazit

Ich liebe es, mit anderen Menschen, vor allem mit meiner Frau, zu verreisen. Es ist ein wunderbares Gefühl, diese Momente miteinander zu teilen. Aber ab und an mal etwas auf eigene Faust zu unternehmen, kann ich nur empfehlen.

Der Gewinn, den du für deine Persönlichkeit daraus ziehst, ist enorm. Also kann ich dir nur raten: Probiere es einmal aus. Und aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen: Es tut auch gut, einmal festzustellen, dass man seinen Partner so richtig vermisst. Danach schätzt man die Gemeinsamkeit noch mehr.