Schiff

Pardon me, ich habe Euch schamlos belogen. Unwissentlich. „Angekommen“ hieß der Titel meines letzten Blogposts vom Sonntag. So fühlte ich mich da auch. Aber was soll ich jetzt schreiben, während ich hier am Strand der Isle of Islay sitze, dieser bezaubernden kleinen Insel, und feststelle, dass es mir hier noch besser geht? „Maximal angekommen“? Oder wie meine Frau im Spaß vorschlug: „Angekommener“? Fakt ist, dass mich Islay von der ersten Minute an, als ich am Mittwochmorgen hier von der Fähre gefahren bin, geradezu magisch in ihren Bann gezogen hat. Warum genau? Natürlich wegen der traumhaften Natur – überall grün mit Schafen, Kühen, Hügeln – und der liebreizenden Menschen (herrlich, wie die Frau im Post Office jede einzelne Ansichtskarte von mir kommentiert hat). Aber hauptsächlich ist das eben so ein Gefühl. So ein Gefühl der absoluten Zufriedenheit. So ein Gefühl der Dankbarkeit, dass ich hier sein darf. So ein Gefühl, dass ich hier am liebsten alles aufsaugen würde, jeden salzigen Windhauch inhalieren.

Strahlen und Wegnicken

Womit wir dann nach einer hoffentlich nicht allzu ermüdenden Einleitung endlich beim Thema wären: Noch nie ist es mir einfacher gefallen, das oft zitierte „Hier und Jetzt“ geschehen zu lassen. Nicht nachdenken, nicht planen, nicht lesen, keine Musik hören – einfach nur im Stuhl sitzen mit der Sonne im Gesicht und hören und fühlen und strahlen und wegnicken und wieder aufwachen und wieder strahlen und wieder wegnicken. So ging das über Stunden. Ein Traum!

Wir verpassen zu oft die Gegenwart

Und während ich da so in meinem Campingstuhl saß und den Moment wirken ließ – kein Gedanke an gestern, kein Gedanke an morgen – da wurde mir wieder klar, wie essenziell für unser Leben dieses „Hier und Jetzt“ ist. Und wie oft ich selbst mich nicht daran gehalten habe. Hektisch schon wieder die nächsten Dinge geplant habe. Oder sinniert habe, was in der Vergangenheit anders hätte laufen können. Und dabei die Gegenwart verpasst habe. Verpasst in dem Sinne, dass ich weder offen noch flexibel genug für die Überraschungen des Lebens war. Immer in der Spur, immer Schema F: Ein Traum für einen Sicherheitsfanatiker und Angstpatienten wie ich es war.

Plädoyer für den Regenspaziergang

Aber Leben ist genau das Gegenteil davon. Ich bin so froh, dass ich das immerhin jetzt schon festgestellt habe und nicht erst mit 70 oder 80 oder gar nie. Seitdem sehe ich in Alltagssituationen viel genauer hin. Und stelle fest, dass dieses Denken gerade mit der deutschen Mentalität schwerlich zusammenpasst. Wie viele Mitmenschen sich schon von den kleinsten Abweichungen ihrer „So-muss-meine-Welt-laufen“ aus dem Konzept bringen lassen, kann man jeden Tag beobachten. Ich kann mich dumm und dämlich ärgern, wenn ich beim Bäcker mal länger warten muss – ich kann aber auch kurz die Augen auf Halbmast bringen und mir mit bewusstem Atmen etwas Gutes tun. Ich kann ausflippen, wenn ich im Stau stehe – oder mit der Frau im Auto nebenan flirten (würde ich natürlich nie tun). Ich kann mich über das schlechte Wetter aufregen – oder einfach meine Regenklamotten und Bergschuhe anziehen und rausgehen. Ein bewusster Spaziergang im Regen bietet zehnmal mehr spannende Eindrücke als bei schönstem Sonnenschein (trotzdem liebe ich die Sonne natürlich).

Über Straßenmusikanten und unsere Hektik

Weil es gerade so schön zum Reisen passt: Ich wundere mich immer wieder, wie viele richtig gute Straßenmusikanten unterwegs sind und wie wenig Zeit und Aufmerksamkeit wir ihnen widmen. Für mich ist es der Inbegriff des „Hier und Jetzt“ mich hinzustellen oder hinzusetzen, wenn mich unterwegs Musik gefangen nimmt. Und das tut es oft. Ob wie vor zwei Monaten in Hamburg  oder kürzlich in Cambridge. Da hat ein alter Mann ohne auch nur einmal von seiner Gitarre aufzusehen so wunderbar eindringlich gesungen und gespielt, dass ich mich sofort niederlassen und die Augen schließen musste. In diesem einen Fall haben das tatsächlich außer mir noch andere gemacht. Ansonsten sieht es doch oft so aus: Die meisten hetzen daran vorbei, selbst wenn ihnen die Musik gefällt. Eine unvorhergesehene Pause passt nicht in den durchgetakteten Tag. Oder das japanische Modell: Straßenmusikanten filmen, einen Mitreisenden mit dem „Ausstellungsstück“ fotografieren und dann nix wie weiter.

Bis Dienstag werde ich mich noch im Hier und Jetzt der Insel austoben. Werde lange Spaziergänge machen, abends mit Mütze und Handschuhen am Lagerfeuer sitzen und Islay erkunden. Ach, und welch Glück: Es fängt zu regnen an. Da kann ich doch endlich meine neuen Gummistiefel ausprobieren.