Kürzlich schrieb mir eine Leserin, bei ihr sei “Hopfen und Malz verloren”. Auch wenn der Grundtenor ihrer Mail sehr positiv war, verbunden mit einem großen Dankeschön fürs Mutmachen, haben mich die Zeilen sehr nachdenklich gestimmt.

Ich habe mich gefragt: Ist das wahr? Gibt es hoffnungslose Fälle? Stimmt es, dass viele Menschen schon allein aufgrund der Umstände gar keine Chance auf ein zufriedenes und stimmiges Leben haben?

Ich behaupte: Nein! Allein schon aus eigener Erfahrung.

Warum ausgerechnet ich?

Nach den “Umständen” meiner Psycho-Karriere müsste ich heute wahrscheinlich frühverrentet zuhause sitzen. Würde vollgestopft mit Tabletten irgendwie versuchen, mit meiner Lebenssituation zurecht zu kommen. Wäre fleißiger TV-Konsument und diplomierter Sofa-Dauersitzer, wertvoller Kunde des nächsten Getränkemarkts, da Alkohol zumindest ein bisschen entspannt, und würde mir immer wieder die große Frage stellen: “Warum ausgerechnet ich?”

Da mir den ganzen Tag langweilig wäre und selbst mit Psychopharmaka-Dröhnung das Fernsehprogramm kaum auszuhalten ist, würde ich Stunden in Selbsthilfeforen im Netz verbringen. Würde mir von anderen die Bestätigung holen, was ich für eine arme Sau bin. Und wir würden uns immer wieder fragen: “Warum ausgerechnet wir?”

Warum ausgerechnet ich? Als ich aufgehört habe, die Frage aus Selbstmitleid zu stellen und stattdessen ehrlich hingeschaut habe, kamen plötzlich die Antworten herangeflogen. Viel mehr als mir lieb waren.

Warum ich? Ganz einfach: Weil ich …

  • vor meinen Ängsten weggelaufen bin
  • zu viel gesoffen habe
  • Freunde hatte, mit denen mich außer Saufen kaum etwas verbunden hat
  • geglaubt hatte, dass jemand von außen mich heilen kann
  • geglaubt hatte, dass Antidepressiva gut gegen Depressionen sind
  • meinen Arsch kaum vom Sofa hochbekommen habe
  • mir von den Medien noch viel mehr Angst habe machen lassen
  • meine Emotionen perfekt unterdrückt hatte
  • alles kontrollieren wollte
  • Abenteuer und Neues aus meinem Leben verbannt hatte
  • es mir in einem Job gemütlich gemacht hatte, der mir mein Freiheitsbedürfnis geraubt hat
  • mich in Ehrenämtern aufgerieben habe, anstatt an mich zu denken
  • in meiner Beziehung nur auf Harmonie bedacht war und eigene Bedürfnisse verleugnet habe
  • meiner Seele nichts von dem gegeben habe, nachdem sie wirklich dürstet

Wir bekommen keine Aufgabe vom Leben, die wir nicht bewältigen können

Seitdem ist mir klar:

Jeder von uns befindet sich im Moment dort, wo er ist, aufgrund
– der Summe seiner (oft unterdrückten) Gefühle,
– seiner Gedanken und Bewertungen von Situationen (inklusive der Art der Selbst-Gespräche -Geißelungen nach der Art “Ich kann das nicht”; “Mit mir stimmt was nicht”; “Ich bin nicht gut genug”)
– und den daraus folgenden Taten und Entscheidungen.

Und NICHT aufgrund der Umstände.

Natürlich können gewisse Umstände im Leben brutal hart sein. Können einen zutiefst erschüttern, an den Rand der Verzweiflung bringen.

Doch warum führt der eine Mensch, der seit einem Unfall im Rollstuhl sitzt, ein glückliches Leben, während der andere mit demselben Schicksal verzweifelt und tief in Depressionen versinkt? Der einzige Unterschied ist die Art, wie wir das bewerten, was uns widerfährt.

Ich schnuppere ja ganz gerne in Eso-Themen rein. Da habe ich mal einen Satz gefunden, den ich überragend finde und der mir auch an schwierigen Tagen hilft:

Unsere Seele bekommt keine Aufgabe, die sie nicht bewältigen kann.

Um den Satz annehmen zu können, braucht es in der Tat ein gewisses Grundvertrauen ins Leben. Und die Gewissheit, dass auf die “Warum ich?”-Frage eine klare Antwort folgt, die dich im Leben voranbringt, wenn du sie annimmst.

Doch oft läuft es so:

Die Seele so: “Schau mal, da ist mal wieder eine neue Aufgabe für uns.”

Du so: “Nö, da hab ich jetzt echt keine Lust mehr auf diese Aufgaben. Welcher Depp stellt die denn immer? Kann da nicht mal Schluss damit sein? Ich leide lieber weiter.

Das große Ich-kann-das-nicht-Spiel

Den letzten Satz würde natürlich niemand so sagen. In der Welt der Selbstverarscher klingt der so:

  • Ich würde ja gerne, aber …
  • Ich wünsche mir …
  • Ich versuche …
  • Ich kann das nicht …
  • Ich habe zu viel Angst …

Wie erzählt meine Freundin Nima in ihrem Hörbuch “Vom Angsthasen zum Abenteurer” so schön: “Ich sage nie mehr ,Ich kann das nicht’, sondern nur noch ,Ich kann das noch nicht’.” Auch sie hätte sich dank heftiger Depressionen und Angst als Dauerbegleiter als hoffnungslosen Fall sehen können. Doch dann fing sie mit dem Hinschauen und Aufräumen an und führt heute ein zufriedenes, abenteuerliches Leben, das 100 % das Gegenteil ihres früheren ist.

Merkst du den Unterschied zwischen “Ich kann das nicht” und “Ich kann das noch nicht”? Es ist völlig okay, etwas nicht zu können oder gerade etwas nicht zu wollen. Niemand muss alles probieren, ständig Neues tun und sich die ganze Zeit neu erfinden.

Doch sei bitte so ehrlich zu dir selbst und sage dir: “Ich habe die Entscheidung getroffen, nichts zu verändern. Mein Unglück liegt also weder an den Umständen noch daran, dass ich nichts ändern könnte.”

Hast du dagegen die Schnauze voll und spürst trotz aller Angst den Entschluss, dass du nicht länger Opfer der Umstände sein willst, helfen dir vielleicht folgende Sätze, die ich mir in meinen schwersten Stunde gesagt habe – bis heute das unumstößliche Mantra meines Lebens:

Ich habe genug gelitten. Dieser Weg hat augenscheinlich nicht funktioniert. Ich entscheide mich jetzt ganz bewusst für etwas Neues und bin bereit, jegliche daraus entstehenden Konsequenzen zu tragen. Ich kann, will und werde mich nicht länger selbst verarschen und will wissen, was das Leben noch zu bieten hat. Ich probiere Neues aus, auch auf die Gefahr hin, dass ich immer wieder mal aufs Maul falle. Doch allein schon die Tatsache, dass ich es tue und mich traue, gibt mir Kraft. Es beweist mir, dass ich lebendig bin, selbst wenn es ab und an ganz schön weh tut.

3 Fragen, die ans Eingemachte gehen

Du fragst jetzt bestimmt: “Woher soll ich denn wissen, nach was meine Seele dürstet und was mir gut tut?”

Einfache Antwort: Probier es aus.

Als Startpunkt kannst du folgende 3 Fragen wählen, die ich mir regelmäßig stelle und mir sofort die Antworten dazu aufschreibe (ist auch spannend zu sehen, welche Entwicklung allein daraus abzulesen ist):

1.) Wie will ich leben/sein? 

2.) Mit wem will ich leben/oft zusammen sein?

3.) Wo will ich leben/oft sein?

Die Kunst dabei ist, die Antworten nicht zwanghaft mit dem Verstand zu suchen. Der liefert dir wieder nur mutlose Lösungen, weil er dich vor Veränderungen schützen will.
Sondern spür mal ganz ehrlich in dich rein: In welchen Tätigkeiten, Situationen, mit welchen Menschen und an welchen Orten hast du dich so richtig pudelwohl gefühlt? So herrlich lebendig, so fröhlich oder berührt? Wann und wo ging dein Herz auf?

Wenn dir allein bei der Erinnerung oder der Vorfreude ein wohlig-warmer Schauer über den Rücken läuft, dann liegst du richtig. Da geht’s hin. Das willst du wirklich.

Doch Achtung: Bei dieser Übung wird sich schon wenige Sekunden später dein Hirn einschalten und dir ein paar klare Ansagen machen: warum du so nicht sein darfst, dich mit gewissen Menschen und ihren Ideen besser nicht umgeben solltest und warum du schon gar nicht das Recht hast, frei über deinen Wohnort zu bestimmen.

Ich kenne das selbst nur allzu gut. Bei jeder Entscheidung quatschen die alten und jahrzehntelang gut programmierten Tugendwächter und Bedenkenträger in meinem Oberstübchen mit.

Meine Seele will Roadtrips

Wie zum Beispiel bei meinem unstillbaren Roadtrip-Fieber. Im November geht die zweite große Tour meines Lebens los. Überwintern im Süden heißt die Devise.

Da kommen ganz schnell wieder die “Darf ich das?”-Fragen. Darf ich schon wieder meine Frau längere Zeit allein lassen? Darf ich einfach herumreisen und Freude haben, während diverse Freunde und Nachbarn ihre Rücken auf ihren Bürostühlen bucklig schuften? Darf es so einfach gehen, mein Geld auch unterwegs zu verdienen?

In dem Fall lass ich das Bedenkenträger-Programm einmal durchlaufen, nehme es zur Kenntnis, lache herzlich drüber und sage: “Hej Jungs, ihr habt ja sowas von recht. Aber leider hat die Seele anders entschieden.”

Und damit ist alles gschwätzt, wie der Allgäuer sagt. Ich habe entschieden, ich mach es. Fertig.

Nachdem ich im Laufe der letzten Jahre das ehrliche In-mich-hinein-horchen immer besser gelernt habe, kam diesmal ein spannender Punkt an die Oberfläche: Ich will nicht die ganze Zeit unterwegs sein. Meine Reise ist keine Flucht. Ich komme nur dann zur Ruhe und richtig bei mir an, wenn ich mehrere Tage an einem Ort bin, gerne auch mal eine, zwei oder drei Wochen (oder mehr?).

So werde ich mich immer mal wieder länger niederlassen: für einen Spanischkurs, für einen Kletterkurs und auf besonderen Stellplätzen, die sich stimmig anfühlen. Bei dem Gedanken daran habe ich gemerkt, wie sich das wohlige Gefühl ausbreitet. Meine Seele dürstet unterwegs nach einer gewissen Stabilität und Kontinuität? Darf sie haben.

Der Durstlöscher, der nicht sein darf

Viele haben sich leider das Hinhören auf die Bedürfnisse abtrainiert. Sie hören nicht mehr auf das Durstgefühl ihrer Seele oder behaupten, sie hätten gar keinen Durst.

Oft sehen sie die Oase schon direkt vor sich, verschließen dann aber fest die Augen. Oder sie reden sich eine Fata Morgana ein und finden viele Gründe, warum genau an dieser Stelle kein Durstlöscher sein kann und darf.

Das kann nicht gesund sein – und ist es auch nicht.

Du kannst dich nicht auf Dauer selbst verarschen, ohne auf irgendeine Art krank zu werden.

Wenn du längere Zeit ein Ungleichgewicht zwischen deinen Bedürfnissen und deinem Handeln zulässt, gibt dein Körper dir Signale. Mal sind es Allergien, Hautprobleme, Schlaflosigkeit, Rückenschmerzen, Migräne, Magengeschwüre, mal Panikattacken oder Depressionen.

Der Satz “Mein Leben ist eigentlich super, wenn da xy (Leiden deiner Wahl hier bitte einsetzen) nicht wäre”, ist die größte Lüge.

Ist es nicht an der Zeit, diesen Schwindel zu durchschauen und einen kräftigen Schritt in die andere Richtung zu gehen? In Richtung Ehrlichkeit, auch wenn’s weh tut?

Was hast du denn zu verlieren? Ein scheiß Leben, mit dem du täglich haderst? Was wäre jetzt so schlimm, das loszuwerden?

Eine Entscheidung, die dir keiner abnehmen kann

Und jetzt? Wie starten? Am besten mit einer kräftigen Entscheidung. Einem Satz, deinem neuen Mantra. Schreib ihn auf, sag ihn dir so oft wie möglich, schmier ihn auf deine Wände oder lass ihn dir als Autoaufkleber drucken (okay, Varianten 3 und 4 sind eher für Fortgeschrittene).

Meine wichtigsten Sätze nach dem Ende der Selbstverarschung waren damals: “Das ist meine letzte Chance” und “Alles, was kommt, wird besser als das, was war.” (Treue Leser wissen das, doch wiederhole ich mich gerne in so wichtigen Punkten.)

Bin ich nach den 4 Jahren jetzt vollständig erleuchtet (kleiner Gag für meine Spiri-Freunde), vollkommen furchtlos, frei von jeglichen Tiefschlägen und traurigen Gefühlen und 365 Tage im Jahr kerngesund?

Nein, natürlich nicht. Ich komme mir trotz der spannenden Entwicklung immer noch vor, als wäre ich erst am Beginn der Reise und darf noch so viel lernen und verstehen.

Zuerst Schiss inne Buchs, dann springen

Zum Glück gibt es da draußen so viele bewundernswerte Menschen, die das Spiel zu ihren Gunsten gedreht haben. Lebende Mutmacher, deren Geschichten und Wissen für uns alle zur Verfügung stehen und von denen ich nicht genug bekommen kann.

Beispiele, die zeigen, dass aus jeder noch so beschissenen Situation die Wende gelingen kann. Kann also keiner sagen, er hätte nicht gewusst, “dass so was möglich ist.”

Alle miteinander hatten sie in den entscheidenen Momenten Schiss inne Buchs (eine meiner Lieblings-Redewendungen). Alle haben sie Dinge getan (oder nicht mehr getan), von denen sie sich das zuvor niemals hätten vorstellen können.

Dann sind sie gesprungen. Einfach so. Weil sie wussten, dass bei ihnen Hopfen und Malz noch lange nicht verloren ist.

Bist du auch schon mal gesprungen – obwohl du dir sicher warst, dass du es nie tun würdest und keine Ahnung hattest, was danach kommt, weil alles in die geschrien hat “Spring!”? Oder stehst du noch auf dem Brett und wartest, bis dich jemand sanft schubst? Ich freue mich auf deine Erfahrungsberichte. 

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