Kürzlich ein Gespräch zweier Frauen in der Nachbarschaft belauscht. Genau genommen war Lauschen angesichts der Lautstärke gar nicht nötig.

Es ging um das Leben. Das alltägliche Leben. Im Sekundentakt fielen die Worte “komisch”, “stressig”, “schlimm”, “Probleme”.

Mir kam es vor wie auf einer Auktion. Wer kann die andere überbieten? “Was, DAS soll ein Problem sein? Da kann ich locker drüber! Haben Sie gesehen, Herr Auktionator, dass ich ein wirkliches Problem habe, das noch viel schlimmer ist?”

So lief das 5 Minuten, 10 Minuten. Bis irgendwann kein Höchstgebot mehr möglich war.

Plötzlich die Lösung: die nächsten Ferien. Dann wird alles gut. Der Mann hat Urlaub. Zusammen mit den Kindern geht es auf die Reise.

Die Zeit bis dahin? Komisch, stressig, schlimm und voller Probleme. Doch kriegen sie angesichts des großen Ziels schon irgendwie rum.

In diesem Moment habe ich mich gefragt:

Brauchen wir wirklich Ferien vom Leben?

Was sagt das über uns und unser hektisches Rumgerenne aus? Gutes Leben existiert nur dann, wenn Wochenende, Ferien oder Urlaub sind?

Der Rest nur Durchhalten, Kämpfen, Stress und Probleme aushalten?

Bis wir Ferien vom Leben haben. Und danach geht es wieder von vorne los.

Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich kann einem gepflegten Urlaub extrem viel abgewinnen. Süßes Nichtstun, Sonne, Rechner aus und einfach mal schauen, was der Tag so bringt.

Nur stellt sich die Frage: Was ist mit dem Rest der Zeit? Alles nur eine nötige Qual, um dann das Paradies zu erleben? Mal abgesehen davon, dass ich mit dieser Art kirchlich geprägter Erlösungslehre nichts anfangen kann.

Wenn ich solche Gespräche mitbekomme, wie oben beschrieben, möchte ich mich am liebsten einmischen und laut schreien (der alte Retterinstinkt taucht doch immer wieder auf):

Hej, wacht auf, das Leben findet jetzt statt!

Jetzt. In diesem einem Moment, in dem ich …

  • mich frei entscheiden kann, meine Lebensumstände anders zu bewerten – denn wer definiert denn, was schlimm und komisch ist?
  • mir erlauben darf, mehr Freude in jeder Minute meines Leben zu haben – und nicht nur, wenn ich am Strand liege.
  • Verantwortung für mein Leben übernehmen und Dinge ändern kann, wenn sie mich belasten oder mich auf Dauer krank machen.
  • anerkenne, welche tiefsten Bedürfnisse ich habe und endlich anfange danach zu handeln – und nicht mehr darauf zu warten, dass andere nach meinen Bedürfnissen handeln.
  • beginne, mich in das Lösen von Problemen zu verlieben, anstatt den ganzen Tag drüber zu quatschen, was und warum alles nicht funktioniert.
  • realisiere, dass das Leben viel zu kurz ist, um pro Jahr 46 Wochen Jammern gegen 6 Wochen Ferien einzutauschen.

Der letzte Satz heißt nicht, dass du jetzt deinen Job hinschmeißen und dich selbstständig machen sollst (es sei denn, du willst das schon lange, dann tu es endlich). Sonst können nämlich aus 6 Wochen schnell mal nur noch 2 Wochen Ferien oder weniger werden. Dann müsstest du ja noch mehr jammern.

Sondern er bedeutet: Ganz egal, was du tust, es ist alles deine Lebenszeit. Jede einzelne Sekunde, die gleich wertvoll ist.

Es gibt kein gutes oder schlechtes Leben, das von äußeren Umständen abhängt. Du entscheidest mit deiner Einstellung, deinen Gedanken, Worten und Taten darüber, wie gut der einzelne Moment für dich ist.

Glücklichsein lässt sich lernen

Für mich ist das einer der wichtigsten Punkte im Prozess des Erwachsenwerdens (und damit meine ich nicht die Zeit zwischen 14 und 18, das kann auch bis zum Rentenalter und länger dauern): Wir sind unseren Gefühlen nicht ausgeliefert (ein sehr guter Artikel auf “Zeit zu leben” dazu).

Die Forschung hat sogar festgestellt, dass sich Glücklichsein lernen lässt (noch ein sehr guter Artikel von “myMONK” dazu).

Ist das nicht eine wunderbare Nachricht? Wir brauchen gar keine Ferien vom Leben, sondern wir können uns selbst Urlaubsgefühle machen. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde unseres Lebens.

Keine wunderbare Nachricht, meinst du? Ja, ich weiß, das ist anstrengend. Opfer spielen geht einfacher.

Ich weiß, wovon ich rede und tappe auch heute noch durchaus mal in die Falle zu glauben, dass das Leben gerade über mich bestimmt.

Stimmt aber nicht. In dem Moment habe ich nur vergessen, wie viel Entscheidungsfreiheit ich habe.

Denn meine feste Überzeugung ist:

Aus jeder Situation, die ich gerade selbst beklage,
hat irgendein anderer Mensch auf dieser Welt
schon einmal etwas richtig Gutes gemacht.

Für mich ein umheimlich befreiender Gedanke. Danach kann ich auch wieder über mich lachen.

Und die Momente viel besser akzeptieren und wertschätzen, die sich auf Anhieb nicht nach Urlaub angefühlt haben.

Auch auf die Gefahr hin, dass ich bei der Jammer-Auktion leider nie mehr den Zuschlag bekomme.

Denkst du auch manchmal, dass du Urlaub vom Leben brauchst? Was stört dich und was könntest du an der Situation ändern? Oder gehörst du zu den Menschen, die stets alles sehr gelassen sehen? Ich freue mich auf deinen Kommentar! 

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