Was für eine seltsame Überschrift! Ausgerechnet von einem, der auf dem Titelbild seines Blogs stolz seinen VW Bus präsentiert. Als Symbol der Freiheit, mit dem er seine Ängste überwunden hat. Oder nicht?

Nein. Oder zumindest Jein. Mit weniger “J” und klarer Betonung auf dem “ein”. Ich bin damals nicht zu meiner Europatour aufgebrochen, um mich zu therapieren oder um zu mir selbst zu finden. Ich bin losgefahren, weil ich Lust auf etwas ganz Neues, auf ein Abenteuer hatte. Und vor allem, weil ich mich endlich rundherum gut fühlte, weil ich gelernt hatte, mit meinen Ängsten umzugehen und weil ich in dem Jahr zuvor wichtige Lektionen gelernt und dringend nötige Veränderungen vorgenommen hatte.

Warum ich das alles schreibe? Schließlich kennst du meine Geschichte schon. Stimmt, aber du kennst nicht den Inhalt der vielen Mails, die ich bekomme. Dort taucht immer wieder ein Thema auf: Der Traum davon, mit einer richtig langen Reise, einem echten Aus- und Aufbruch das eigene Leid zu verringern oder zu beseitigen.

Klingt wie ein Traum: Mal so richtig Abstand zu allem bekommen, was einen belastet. Neue Eindrücke, neue Menschen, am besten noch weißen Sand unter den Füßen. So richtig loslassen. Der optimale Moment und Ort, um Klarheit über sein Leben zu bekommen, oder? Was sollen einem hier Angst, Depressionen oder andere Sorgen anhaben?

Ziemlich viel. Anders formuliert: Du kannst deiner Angst nicht davonfahren. Und auch nicht davonlaufen oder davonfliegen. Okay, falls deine einzige echte Angst die Flugangst ist, dann könnte das Konzept aufgehen. Sonst eher nicht.

Denn du kannst deine Themen nicht mal kurz an der Autobahnraststätte in den Mülleimer schmeißen. Du kannst sie auch nicht im Flieger nach Australien über dem Meer abwerfen. Du trägst die Dinge in dir und mit dir – egal, wo du dich aufhältst. Also bist DU der Ort, an dem Lösungen gefunden und Veränderungen eingeleitet werden. Und nicht Phuket, Santorin oder Bali.

Darauf warten, bis der Deckel vom Topf fliegt

Ich selbst habe das oft genug schmerzhaft erlebt. Teilweise haben sich meine Ängste auf den Urlaubsreisen sogar noch verstärkt. Sollte es doch mal zwei, drei Wochen einigermaßen gut gegangen sein, kam die Panik spätestens in der Nacht vor der Rückfahrt oder auf der Heimreise selbst.

All meine Erwartungen vom Runterkommen, Kopf ausschalten, den Blick auf die schönen Dinge des Lebens lenken wurden oft genug bitter enttäuscht. “Eigentlich müsste es dir hier doch gut gehen”, dachte ich, während meine Hand beim Abendessen im feinen Hotel zitterte, weil mich die Angst schon wieder fest im Griff hatte und ich Panik hatte, dass jeder meinen bemitleidenswerten Zustand schon von Weitem sehen könnte.

Der Meister des Verdrängens, wieder einmal eingeholt von seinen unzähligen Ängsten.

Hätte sich damals etwas geändert, wenn ich statt 2 Wochen gleich 2 Monate weggefahren wäre? Nein, denn all meine Themen waren viel zu präsent, brodelten munter vor sich hin und warteten nur darauf, bis der Deckel wieder davonfliegt.

Eine große Reise ist nicht der Ausgangspunkt einer Therapie

Deshalb kann ich die Euphorie von Menschen nicht teilen, die eine große Reise quasi als Ausgangspunkt ihrer Therapie sehen. Obwohl ich selbstredend jede Art von Freiheitsdrang und den Wunsch, mal neue Dinge auszuprobieren und dem alten Trott den Rücken zu kehren, zu 100 Prozent befürworte.

Es stellt sich nur die Frage: Ist die Zeit schon reif dafür? Oder ist es nicht erst einmal an der Zeit, die offensichtlichen Baustellen anzuschauen. Oder sich – vielleicht zum ersten Mal im Leben – ganz ehrliche Fragen zu stellen, was denn die Baustellen sein könnten? Also schmerzhafte Antworten zuzulassen und möglicherweise noch schmerzhaftere (aber im Nachhinein gesehen dann sehr wohltuende und heilsame) Entscheidungen zu treffen?

Wenn du dann wieder Boden unter den Füßen spürst und merkst, dass sich etwas zum Positiven bewegt, wenn du spürst, wie du einen neuen Zugang zu deinen Ängsten bekommen hast und der Deckel sicher auf dem Topf sitzt, weil das Wasser nur noch lauwarm ist: Dann nichts wie los und auf in die Welt!

Postkarten bitte an mich

Bitte nicht falsch verstehen: Der Artikel soll keinesfalls ein Ratschlag an alle Angstpatienten sein, sich solange daheim zu verkriechen, bis alle Themen aufgearbeitet sind und keine Reisen mehr zu unternehmen. Im Gegenteil. Trotz der Angst immer wieder aufzubrechen und sich unterwegs manchmal überraschende Dinge zu trauen, ist extrem wichtig und gibt viel Selbstvertrauen für weitere Aufgaben. Ganz besonders für die Mutigen, die sogar allein losziehen.

Aber als Allheilmittel gegen alle angehäuften Sorgen, Ängste und Probleme taugen lange Reisen sicher nicht. Selbst, wenn man dort spannende Erfahrungen macht wie zum Beispiel auf dem Jakobsweg oder bei einem zehntägigen Vipassana-Meditationskurs, bei dem nicht gesprochen werden darf.

Das ist alles schön und gut. Aber deine Aufgaben musst du zuhause machen. Deswegen heißen sie ja auch Hausaufgaben und nicht Reiseaufgaben.

So, du hast dir jetzt alles durchgelesen, heftig den Kopf geschüttelt, weil du weißt und tief im Innersten spürst, dass du aktuell nichts dringender brauchst, als einen Ausstieg auf Zeit oder für immer. Weil du 1000 Prozent sicher bist, auf diesem Weg die Erfüllung zu finden. Dann bleibt mir nur noch, dir eine gute Reise zu wünschen. Und schick mir bitte eine Postkarte!

Hast du auch schon mal mit dem Gedanken gespielt, alles stehen und liegen zu lassen und einfach abzuhauen? Welche Erfahrungen hast du mit dem Thema Angst und Reisen gemacht? Gab es Aha-Momente unterwegs, die dich in dem Thema weitergebracht haben? Ich freue mich auf deinen Kommentar!

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