Ehrlich gesagt mag ich keine Bücher und Fernsehsendungen, die irgendwas mit “Die …-Lüge” im Titel haben. Von denen habe ich so einige gelesen bzw. gesehen und mir oft gedacht: ganz schön viel heiße Luft und teils künstliche Skandalisierung.

Und dann gibt es die eine große Ausnahme. Ein Buch, das mich in diesem Jahr wie kein anderes beeindruckt hat. Eins, das auch die Lüge im Titel trägt – und das völlig zurecht. Im Herbst erschien “Unglück auf Rezept – die Antidepressiva-Lüge und ihre Folgen” von Dr. Peter und Sabine Ansari.

Die Kernaussage von Peter Ansari nach über 10 Jahren Forschung auf dem Gebiet: Die Wirkung von Psychopharmaka beruht in den meisten Fällen auf dem Placebo-Effekt. Sie könnte also genauso gut mit einer Zuckerpille erreicht werden. Nur dass Letztere nicht so heftige Nebenwirkungen und Absetzerscheinungen mit sich bringen würde.

Was noch aufgedeckt wird: Es gibt kein biochemisches Ungleichgewicht im Gehirn von Depresiven, das durch Medikamente wieder hergestellt werden müsste (“Serotonin-Lüge”). Antidepressiva beseitigen weder eine Depression noch senken sie die Suizidrate. Und sie sind weder eine individuelle noch die bestmögliche Therapie. Die Wissenschaft hat deutlich gezeigt, dass leichte und mittelschwere Depressionen nicht von Antidepressiva gebessert werden.

Ein Geständnis: Ich war “Psychopharmaka-Fan”

Bevor ich näher auf das Buch eingehe, noch eine kleine Anekdote: Nach meinem Zusammenbruch im April 2013 war ich 5 Wochen in einer psychosomatischen Klinik. Dort war das Thema “Antidepressiva – ja oder nein?” stets präsent und unter den Patienten viel diskutiert.

Ich weiß noch genau, wie ich in einem Gespräch gesagt habe: “Ich bin absoluter Fan von Psychopharmaka.” Nach 10 Jahren Einnahme von Antidepressiva gegen meine Panikattacken und zur Linderung meiner depressiven Episoden hatte ich ernsthaft geglaubt, dass diese Medikamente mein Leben besser machen. Und dabei die diversen Nebenwirkungen großzügig übersehen.

Genauso wie die Tatsache, dass ich zu Beginn der Behandlung erstmal Versuchskaninchen spielen durfte. Ich hatte nämlich erst das sechste oder siebte unterschiedliche Medikament überhaupt vertragen, ohne dass mein Körper komplett durchgedreht ist. Den Fakt, dass im letzten halben Jahr vor meinem Zusammenbruch die Antidepressiva selbst bei immer höherer Dosierung gar nicht mehr gewirkt haben, hatte ich auch verdrängt.

Das Erwachen kam erst in der Klinik. Dort wurde per Bluttest nachgewiesen, dass ein – mir vom Hausarzt verschriebenes – neues Antidepressivum (SSRI) überhaupt nicht im therapeutisch relevanten Bereich gewirkt hat. Meine riesengroßen Fortschritte waren also einzig auf den Placebo-Effekt zurückzuführen. Mein Glaube an die segensreiche Wirkung des Medikaments hatte mir geholfen, nicht die tägliche Tablette.

Wie wenig segensreich das Medikament war, durfte ich dann feststellen, als ich es absetzen wollte. Doch das ist eine ganz andere Geschichte, die ich in diesem Artikel und ausführlich in unserem Buch Antidepressiva absetzen (E-Book, Printversion) geschildert habe.

Kurz zusammengefasst: Ich wusste es nicht besser und dachte immer, dass ich mich auf die Kompetenz von Hausärzten und Psychiatern verlassen könne. Das war ein Fehler. Und in diese Falle tappen leider ziemlich viele Menschen. Das wird in dem Buch von Peter und Sabine Ansari sehr deutlich herausgearbeitet.

Mehr als 10 Jahre Forschung zu Antidepressiva

Wie kommt überhaupt jemand dazu, ein Buch zu schreiben, das der landläufigen Meinung “Antidepressiva helfen richtig gut gegen Depressionen” diametral widerspricht? Dr. Peter Ansari ist Humanbiologe, war in Hamburg und Berlin in der Hirnforschung tätig und hat mehr als 10 Jahre lang über Depressionen geforscht – praktisch wie theoretisch.

Diese Akribie macht das Buch so besonders – und auch besonders glaubwürdig. Da hat sich einer nicht mit den fünf erstbesten (und möglicherweise von der Pharmaindustrie direkt beeinflussten) Studien zufrieden gegeben. Sondern Ansari hat, wie er im Vorwort schreibt, “monatelang in Kellerarchiven von psychiatrischen Anstalten verbracht und Patientenakten verglichen”. 343 Fußnoten – hauptsächlich Verweise zu Studien – zeigen, wie tief sich Ansari in das Thema eingearbeitet hat.

Dazu hat er sämtliche verfügbaren – teils mehr als 50 Jahre alten – Studien unter die Lupe genommen. Und das vielleicht Wichtigste: noch ganz viele Betroffene befragt. Herausgekommen ist: Menschen bekommen oft viel zu schnell wegen bestimmter Schwierigkeiten Antidepressiva verschrieben (Ansari schreibt sogar von “regelrecht aufgezwungen”). Und sie kommen dann von den Mitteln oft jahrelang, teils jahrzehntelang, nicht mehr weg.

Wenn Psychiater die Entzugsprobleme schlicht verleugnen

Mit verschiedenen Fallbeispielen wird geschildert, in welchen Teufelskreis Menschen beim Absetzen von Antidepressiva geraten können. Das Buch schildert Fälle, bei denen es zu derartigen psychischen Ausnahmezuständen kam, dass die Betroffenen erstmals in ihrem Leben stationär in eine psychiatrische Klinik mussten. Die dortigen Psychiater gingen allesamt von Rückfällen in die Depression aus. Sie leugneten, dass es sich um Entzugsprobleme handeln könnte. Schließlich gibt es in weiten Teilen der Fachwelt immer noch die Ansicht, dass Antidepressiva nicht abhängig machen.

In den Kliniken wurde dann von den Psychiatern oft mit weiteren Medikamenten, auch Neuroleptika, herum probiert – mit weitreichenden Folgen für das weitere Leben der Betroffenen. Wie man am Ende erfährt, zählt Co-Autorin Sabine Ansari zu diesen. Sie traut sich nach heftigsten Erfahrungen keinen weiteren Entzug mehr zu.

Wenn es überhaupt einen Kritikpunkt an dem Buch gibt, dann der, dass hier ausschließlich die richtig heftigen Absetz-Fälle geschildert werden. Ich kenne zum Glück einige Menschen, bei denen das Absetzen relativ unkompliziert ablief. Ich selbst hatte zwar auch zu kämpfen, doch ging es nicht ansatzweise so krass zur Sache wie in den Fallbeispielen. Wenn ich vor dem Absetzen als einzige Lektüre dieses Buch gehabt hätte, weiß ich nicht, ob ich mir überhaupt diesen großen Schritt zugetraut hätte.

Diese Irrtümer über Antidepressiva werden beschrieben

Was sind nun die Lügen über Antidepressiva, die aufgedeckt werden? Erschreckenderweise ziemlich viele. Hier eine Auswahl aus dem Buch:

  • Antidepressiva sind das Ergebnis moderner Wissenschaft
  • Antidepressiva beseitigen ein biochemisches Gleichgewicht
  • Antidepressiva sind Placebo deutlich überlegen
  • Antidepressiva beseitigen eine Depression
  • Antidepressiva helfen allen Menschen
  • Antidepressiva machen nicht abhängig
  • Antidepressiva senken die Suizidrate
  • Antidepressiva sind eine individuelle Therapie

All diese Aussagen werden in den 6 Kapiteln eindrucksvoll widerlegt. In dieser Form hat sich das im deutschsprachigen Raum noch niemand getraut.

Was mich – trotz einer gewissen Vorahnung – wirklich schockiert hat: Dass nicht deshalb so viele Antidepressiva verschrieben werden, weil sie so gut wirken. Sondern weil die Pharmaindustrie seit Einführung der neueren Substanzen (SSRI) Anfang der 1990er Jahre die Medikamente mit massiven Marketingmaßnahmen, manipulierten Studien und der “Gehirnwäsche einer ganzen Generation von Psychiatern” (Vorwort von Professor Dr. med. Bruno Müller-Oerlinghausen) in den Markt gedrückt hat.

Jede Menge einschlägiger Gerichtsurteile werden in dem Buch zitiert. Trotz der Milliardenstrafen gegen die Pharmaindustrie hat sich an der fachlichen und öffentlichen Wahrnehmung zur Wirksamkeit und Verträglichkeit von Antidepressiva wenig geändert.

Dabei sollte über folgende Dinge gesprochen werden:

Machen Antidepressiva depressiv? Es gibt laut dem Buch verschiedene Hinweise, dass erst durch die Einnahme von Medikamenten aus einer depressiven Episode eine chronische Depression wird. Wieso sonst steigen in den OECD-Ländern die Anzahl der chronischen Depressionen ständig an, während gleichzeitig immer mehr Antidepressiva verschrieben werden? Könnten die Medikamente eine Depression dauerhaft beseitigen, müsste das ja auch an den Zahlen ablesbar sein.

Erhöhen Antidepressiva die Suizidrate? Im Buch wird eine Studie (bezogen auf die 23 ökonomisch erfolgreichsten Länder der Welt in den Jahren 1995 bis 2008) zitiert, die besagt: In den Ländern, in denen am meisten Antidepressiva verschrieben wurden, ereigneten sich auch die meisten Suizide. Im Buch werden einige traurige Beispiele von Menschen aufgeführt, die zum ersten Mal mit Antidepressiva in Kontakt kamen und sich kurz danach das Leben genommen haben.

An vielen weiteren Stellen bin ich hängen geblieben, habe mit dem Kopf geschüttelt und mir gedacht: Wie kann es sein, dass bei der Kenntnis all der neuen (unabhängigen) Studien immer noch getan wird, als seien Antidepressiva das Mittel der Wahl? Wie vielen von den 4 Millionen Menschen, die in Deutschland aktuell Antidepressiva nehmen, hätten ohne Medikamente behandelt werden können? Und zwar, wenn man ihnen mal ausführlich zuhören würde, statt dass ihnen nach wenigen Minuten der Hausarzt oder Psychiater ein Rezept in die Hand drückt.

Sehr gut gefällt mir an diesem Buch, dass es nicht bei der Aufzählung all der Irrtümer und Ungereimtheiten bleibt. Sondern am Ende gibt es konkrete Hilfestellung. Nämlich: Wie lassen sich die individuellen Ursachen der Depression auf sanfte und verträgliche Art behandeln? Hier folgen viele Ratschläge, die Betroffenen aufzeigen: Es geht auch ohne Antidepressiva, wenn sie selbst den Willen haben, zu ihrer Gesundung beizutragen.

Das Fazit

Ein großes, wichtiges Werk, das im Wartezimmer jedes Hausarztes und Psychiaters dieser Republik liegen sollte. Damit die Menschen endlich erfahren, was die wahren Hintergründe der millionenfachen Verordnungen sind. Und auf was sie sich einlassen, wenn sie einmal mit der Einnahme von Antidepressiva beginnen.

In der Öffentlichkeit wird inzwischen wie selbstverständlich über Depressionen geredet und berichtet. Wird Zeit, dass das auch mit Antidepressiva passiert – dem Allheilmittel, das leider (zu oft) keins ist …

Das Buch ist erschienen im Klett-Cotta-Verlag (ISBN: 978-3-608-98060-8). Hier kannst du es bestellen:
Peter und Sabine Ansari – Unglück auf Rezept: Die Antidepressiva-Lüge und ihre Folgen 

Auf seiner Internet-Seite www.depression-heute.de informiert Peter Ansari über den aktuellen Stand der Forschung bei Depressionen und berichtet über Missverständnisse und Skandale zum Thema Antidepressiva.

Foto: depression-heute.de