Vor einer Woche habe ich beschlossen, einen Artikel über Achtsamkeitsübungen im Alltag zu schreiben. Über die segensreiche Wirkung von Achtsamkeit an sich und die Schwierigkeit, sie in unser Leben zu holen. Dafür habe ich in den vergangenen Tagen besonders achtsam mich selbst und andere Menschen beobachtet, um herauszufinden, worin sich die Fallstricke, aber auch Möglichkeiten zeigen.

Drei Erlebnisse waren für mich besonders prägnant. Ich habe mir ausgemalt, was passiert wäre, wenn ich die jeweils Beteiligten gefragt hätte, wie sie es denn mit der Achtsamkeit halten. Die wahrscheinliche Antwort: “Achtsamkeitsübungen im Alltag? Dafür habe ich keine Zeit!” (Damit hätte sich auch die obskure Artikelüberschrift aufgeklärt, puh.)

Was in dieser Woche passiert ist?

Beispiel Nummer 1: Früher Abend, kurz vor Beginn der Yogastunde. Es läuft ruhige, meditative Musik. 7 der 8 Teilnehmer liegen zur Einstimmung entweder ausgestreckt am Boden oder sitzen schon im Schneidersitz, um ihren Geist zu beruhigen und auf die kommenden 90 Minuten einzustimmen. Nur eine junge Frau scrollt hektisch auf ihrem Smartphone herum, tippt Nachrichten und steckt das Gerät erst Sekunden vor Beginn der Stunde in ihre Tasche.

Beispiel Nummer 2: Früher Nachmittag auf der Langlaufloipe. Eine entgegenkommende Frau bleibt plötzlich mitten in der Spur stehen. Sie nestelt an ihrer Tasche herum und ich denke, dass sie nun bestimmt ein Foto der herrlichen, sonnenüberfluteten Winterlandschaft macht. Nein, als ich näher komme, sehe ich, dass sie ein Smartphone herauszieht, das wohl gerade geklingelt haben muss, und augenscheinlich ihrer Freundin erzählt: “Woisch, i bi grad in Durach auf dr Loipe.” (Ob ihre nackten Hände bei minus 8 Grad dabei abgefroren sind, weiß ich nicht.)

Beispiel Nummer 3: Später Vormittag in der Sauna. Zwei Frauen Anfang 50 (darf man Frauen, die mit einem in der Sauna sitzen, altersmäßig überhaupt schätzen?) kommen herein und haben die nächsten 15 Minuten nur ein Thema: Der Chef ist ein Idiot, der Ehemann ist ein Idiot, die Nachbarn sind auch nicht ganz sauber und überhaupt kann es ja gar nicht sein, was die beiden so alles im Lauf eines Tages ertragen müssen. Das Ganze vorgetragen als verschwörerisches Halb-Geflüster, trotzdem – oder gerade deshalb – gut vernehmbar für alle.

Exkurs: Verzeiht, liebe Frauen, dass ihr hier gleich dreimal vertreten seid und kein Mann. Das liegt nicht daran, dass ihr weniger achtsam als Männer seid, sondern dass ich mich gerne zu Zeiten in der Öffentlichkeit herumtreibe, in der die meisten anderen Männer noch brav ihrem Job nachgehen.

Müssen wir unsere Koch- und Backwerke fotografieren?

Was ich mich bei allen drei genannten Beispielen gefragt habe: Warum tun wir uns so schwer, Dinge bewusst wahrzunehmen, uns auf etwas einzustimmen und uns dann mal eine Weile nur dieser Sache zu widmen?

Warum müssen wir während des Essens fernsehen? Während des Fernsehens auf dem Tablet herumtippen? Beim Artikel schreiben auf Facebook herumscrollen? Beim Konzert mit dem Smartphone filmen? Beim Kochen und Backen unsere Werke fotografieren? Sport machen mit Musik in den Ohren? Einschlafen mit laufendem Fernseher? Beim Gespräch den Blick schweifen lassen oder uns sogar einem anderen Tischnachbarn zuwenden? Beim Reisen jeden Schritt und Tritt mit der Kamera festhalten?

Augenscheinlich sind wir vor Hektik, Getriebenheit, innerer Unruhe, zeitlicher Optimierung, Multi-Tasking-Wahn und gnadenlosem Selbstdarstellungstrieb in der Social-Media-Welt nicht mehr fähig, unseren Geist nur EINER Sache zu widmen. Mit voller Bewusstheit, so ganz ohne Ablenkung.

Ich bin in der Hinsicht bestimmt kein Engel, ertappe mich noch oft genug bei unbewusstem Verhalten und ärgere mich darüber. Im Gegensatz zu früher habe ich aber schon viele der oben genannten Baustellen geschlossen, weil ich weiß, wie gut mir Achtsamkeit tut.

Achtsam zu sein, heißt ja nichts anderes, als in jeder Situation bei sich zu bleiben. Nicht innerlich durch eine Ablenkung wieder wegzulaufen. Je besser mir das gelingt, desto eher ruhe ich in meiner Mitte, kann in mich hinein hören, spüre meine Bedürfnisse.

Der Faktor Achtsamkeit hat für die psychische Gesundheit eine so immense Bedeutung. Trotzdem wird er meiner Meinung nach von den meisten Menschen noch immer stark unterschätzt. Dabei sind die ersten Schritte in die richtige Richtung gar nicht groß. Folgende Dinge haben mir auf meinem Weg geholfen:

Meine kleinen Achtsamkeitsübungen

#1 Die Zeit vor der Erfindung des Handys/Smartphones simulieren
Oder kurz gesagt: Das doofe Handy einfach mal weit weglegen. Zu 99% der Zeit ist mein Smartphone komplett stumm geschaltet, ohne Mitteilungssignal, ohne Vibration. Nichts. Alle paar Stunden schaue ich drauf, rufe wenn nötig zurück und beantworte Nachrichten. Wenn ich aus dem Haus gehe, achte ich auch immer öfter darauf, dass das Gerät zuhause bleibt. Nach anfänglichen Suchtreflexen ist das wie eine große Befreiung.
Auch ohne Smartphone habe ich kürzlich meine Frau wiedergefunden, die ich in der Stadt “verloren” hatte. Keiner von uns hatte sein Handy dabei, also habe ich einfach einen Mann gefragt, der vorher in unserer Nähe war, ob er gesehen hat, wo sie hingelaufen ist. Zack, hat funktioniert. Ja, ein Leben ohne Smartphone ist möglich. Noch wohltuender für Körper und Geist finde ich es, einige Tage komplett auf alle technischen Geräte – die Achtsamkeitskiller schlechthin – zu verzichten, so wie bei meiner Zeit im Ashram.

#2 Mindestens einmal am Tag innehalten und ein paar Minuten nur atmen
Klingt banal? Na dann probier es mal aus! Oder frage dich, wann du dich zum letzten Mal auf so eine Übung eingelassen hast. Denn wenn du öfter zur Ruhe kommst und den Geist nach innen lenkst, birgt das Nebenwirkungen. Könnte sein, dass dir gewisse Dinge plötzlich sehr bewusst werden, die du lange Zeit verdrängt hast. Es muss am Anfang ja nicht gleich die 30-minütige Meditation im Lotussitz sein. Ich habe mit geführten Meditationen angefangen, die ich mir via Kopfhörer im Sitzen, Liegen oder Stehen zu Gemüte geführt habe. Das bewusste Innehalten geht natürlich auch ohne Anleitung. Die besten Übungsorte finden sich in der freien Natur. Auf dem Baumstamm im Wald, dem Steg am See, dem Bänkchen vor dem Stadel oder auf einem Stein in den Bergen. Im Idealfall ziehst du währenddessen nicht dein Smartphone heraus (Siehe Achtsamkeitsübung Nummer 1).

#3 Echtes Interesse an anderen Menschen zeigen
Jetzt wird es schon ein bisschen schwieriger. Echtes Interesse zeigen ist für mich die Königsdisziplin der Achtsamkeit (und trotz vieler guten Vorsätze komme ich mir dabei öfter wie ein Hofnarr als ein König vor). Es beinhaltet nämlich, einen Moment bewusst wahrzunehmen, sich selbst zurückzunehmen, einem anderen Menschen aufmerksam zuzuhören oder sich in seine Situation versetzen zu können. Das Zauberwort dabei heißt: Fragen! Den sichtlich traurigen Freund nicht sofort mit wohl gemeinten Ratschlägen überschütten, sondern nachfragen und genau hinhören, wo der Schuh eigentlich drückt. Die extrem gestresste Bedienung im voll besetzten Restaurant nicht beschimpfen, weil es so lange dauert, sondern echtes Mitleid für ihre Situation zeigen und fragen, ob ein paar Kollegen ausgefallen sind. Einfach zeigen, dass ich den anderen als Menschen wahrnehme und dabei selbst Mensch bin – und nicht ein Stress- und Beschleunigungsroboter.

#4 Mich am Ende des Tages fragen, wie achtsam ich zu mir selbst war
Das ehrliche Reflektieren zählt für mich schon länger zum festen Programm. Seit ich mir selbst das wunderbare Buch “Ein guter Plan” zu Weihnachten geschenkt habe, wurde eine tägliche Übung daraus. Dort kann ich in verschiedenen Kategorien ankreuzen, wie achtsam ich an dem Tag zu mir war. Dabei geht es um Bewegung, Ernährung, Stress, Zeit mit Freunden und Dinge, mit denen ich mir selbst Gutes getan habe (also zum Beispiel Sauna, abzüglich Jammerei). Das Faszinierende daran ist, dass ich durch das tägliche Eintragen gezwungen bin, einige Minuten meinen Fokus ganz auf mich und mein Tun zu richten. Eine schöne Erinnerung daran, dass jeder Tag ein Geschenk ist und es nicht darum geht, ihn nur irgendwie herumzubringen. Das Leben ist zum Leben da – falls ich das zwischendrin vergessen sollte, wird es mir dabei immer wieder klar. Die Übung geht übrigens auch gut nur mit einem Notizblock (wenn es unbedingt sein muss auch auf dem Rechner).

Am Ende will ich dir die 7 Achtsamkeitsübungen nicht vorenthalten, mit denen mein Freund und Aufmerksamkeits-Papst Afschin sein Leben bewusster gestaltet.

Übrigens ist mir gerade aufgefallen, dass ich vor lauter Hunger ein Brot während des Tippens nicht ganz so achtsam verzehrt habe. Immerhin habe ich es bemerkt …

Wie hältst du es mit der Achtsamkeit? Welche Momente im Leben nimmst du besonders bewusst wahr, wann fällt es dir richtig schwer? Hast du gute Achtsamkeitsübungen, die du empfehlen kannst? Ich freue mich auf deinen Kommentar!

Foto: Unsplash.com